Category: Vorträge
"Es läßt sich nicht scherzen mit der Reformation". Impulse Karl Barths für die Reformation der Kirche heute
Vortrag bei der Karl Barth-Tagung auf dem Leuenberg am 22. Juli 2015
1. Reformation und Reform – zwei unterschiedliche Perspektiven
Worin müsste die „Reformation der Kirche heute“ eigentlich bestehen? Das ist die Frage, die sich im Grunde jedem aufdrängt, der wahrnimmt, wie die Evangelische Kirche in Deutschland mit großem Aufwand und Eifer nun schon seit ein paar Jahren auf das Reformationsjubiläum im Jahre 2017 zugeht. Dass dieses Jubiläum nicht nur ein Exerzitium der Vergangenheit sein soll, darin sind sich alle einig, obwohl diese Vergangenheit sich natürlich kräftig zu Worte meldet und das Erinnern nun einmal zu einem solchen Jubiläum gehört. Aber ob sich bei diesem Erinnern heraus schält, was der Kirche als Kirche der Reformation heute eigentlich Not tut, lassen schon die „Perspektiven für das Reformationsjubiläum“ fragen, die ein „wissenschaftlicher Beirat“ des Kuratoriums für dieses Jubiläum erarbeitet hat. Der damalige Ratsvorsitzende hat sie als eine „gute Grundlage für die Vorbereitung“ auf dieses Ereignis bezeichnet. Sind sie das?
Von der Erneuerung der Kirche als reformatorischer Kirche heute liest man in diesen Perspektiven jedenfalls kein Wort. Denn es handelt sich hier um „unterschiedliche Perspektiven“ politischer, wirtschaftlicher, kultureller und dann auch „religiöser“ Art, aus denen die Reformation und ihre Wirkungen wahrgenommen werden sollen. Dementsprechend steht die Aufgabe an, „die Relevanz, die die Reformation weit über Theologie und Kirche hinaus für die unterschiedlichen Bereiche unserer gegenwärtigen Kultur besitzt, herauszustellen und nach deren Deutungspotential in einer von Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung bestimmten Zeit zu fragen“ (These 20). In diesem Horizont wird gewürdigt, dass die Reformation „im Kern religiöser Natur war“; freilich auf spezifische Weise. „Es ging ihr um das Verhältnis des Menschen zu Gott, zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zur Welt“. Die „religiöse Natur“ der Reformation wird also aus anthropologischer und zwar aus individual-anthropologischer Perspektive beschrieben. Die Reformation, heißt es, habe „den allein durch Christus gerechtfertigten Menschen (!) als unmittelbar vor Gott stehende Person“ entdeckt und damit seine Würde als Person und seine Freiheit (These 8). Diese Freiheit hat sie dann auch „für das Verständnis der Kirche zur Geltung gebracht, indem sie die Kirche im Sinne des Gedankens von der Priesterschaft aller Getauften als Gemeinschaft aller ihrer Glieder ohne hierarchische Abstufung verstand und Unterschiede in ihr nur als Unterschiede der Funktionen für legitim hielt“ (These 9).
Genau mit dieser Argumentation kommt auch der im vorigen Jahre erarbeitete „Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland“ mit dem Titel „Rechtfertigung und Freiheit“ (Gütersloh 2014) auf die Kirche zu sprechen (vgl. 90f.). Weil vor Gott „alle Christen gleich“ und „unmittelbar vor Gott“ sind, können alle im Prinzip Sünden vergeben, verkündigen, Sakramente verwalten und „vom Evangelium reden“. „Nur um der Ordnung willen gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer“, denen auf Grund ihrer Qualifikation das Amt der Wortverkündung und der Sakramentsverwaltung von der Gemeinde übertragen wird. Was das alles für die Kirche heute bedeutet, aber wird nicht gefragt. Denn dieser an sich durchaus beachtliche „Grundlagentext“ bewegt sich in einer Hinsicht erkennbar in den Bahnen dessen, was in den „Perspektiven für das Reformationsjubiläum“ als „religiöser Kern“ der Reformation ausgegeben wurde. Das Resümee der Bemühung um die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für heute lautet nämlich auch hier: „Bei der Reformation ging es im Kern um das Verhältnis von Gott und Mensch – und damit um die stets aktuelle Frage, wie der Mensch sich selbst verstehen solle“ (107).
Es ist darum nicht recht verständlich, warum zwei Mitglieder jenes Beirates (Heinz Schilling und Thomas Kaufmann) sich in der „Welt“ vom 24.05.2014 giftig und bissig von jenem „Grundlagentext“ distanziert haben. Hier solle – sagen sie – mit einem geradezu „heilsgeschichtlichen Programm“ der „Erinnerung an die Reformation glaubensweckende Kraft“ zugeschrieben werden. Es werde nicht beachtet, dass das „‘Religiöse‘ im 16. Jahrhundert aufs Engste mit dem ‚Politischen‘, ‚Ökonomischen‘, ‚Sozialen‘ und ‚Rechtlichen‘ verzahnt“ war. Die Evangelische Kirche in Deutschland zimmere hier eine „religiöse Reformation“ aufgrund einer langweiligen „dogmatischen Geschichtsdeutung“ unter der Leitvorstellung der fünf Exklusivaussagen solus Christus, sola gratia, solo verbo, sola scriptura und sola fide, die gar nicht ursprünglich reformatorischen waren, sondern erst im 19. Jahrhundert zum Kanon des Reformatorischen erhoben wurden.
Diese Kritik, welche der Kirche verbieten will, sich auf die sie selbst betreffenden Grundlagen der Reformation zu besinnen, ist abseitig. Jener „Grundlagentext“ bemüht sich redlich, die für die Kirche wesentlichen reformatorischen Grundeinsichten darzustellen und aufzuweisen, welche Bedeutung sie heute in der leistungsorientierten pluralistischen Gesellschaft gewinnen können. Wer die in der Tat spätere Systematisierung des Reformatorischen unter der Leitvorstellung der fünf Exklusivaussagen kritisieren will, macht sich selbst beweispflichtig, inwiefern diese Exklusivaussagen unzutreffend sind. Dazu äußern sich die beiden Kritiker nicht, die ihr Beleidigtsein, dass sie nicht selbst an diesem „Grundlagentext“ mitwirken konnten, deutlich zu erkennen geben. Gezänk gehört nicht nur hier leider auch mit dazu, wenn sich sogenannte „Protestanten“ über das Reformatorische verständigen sollen. Es vernebelt den klaren Blick und das ist auch hier der Fall.
Denn sowohl die „Perspektiven für das Reformationsjubiläum“ wie der „Grundlagentext“ stimmen nämlich darin überein, dass sie das Reformatorische vomeinzelnen Menschen her in den Blick nehmen und diesen Menschen erst zweitrangig als ein Glied der Gemeinde Jesu Christi verstehen. Das war – um jetzt schon einmal Karl Barth ins Spiel zu bringen – unter anderem der Grund, warum Barth die Rechtfertigungslehre nicht als articulus stantis et cadentis ecclesiae verstanden wissen wollte. Sie verengt nach seinem Urteil die Wahrnehmung dessen, was Jesus Christus für Menschen bedeutet, auf den Gesichtspunkt, wie wichtig er für das persönliche Heil des einzelnen Menschen ist. Deshalb hat Barth nicht die Rechtfertigungslehre als solche, sondern ihren „Grund“ und ihre „Spitze“, nämlich „das Bekenntnis zu Jesus Christus“ als Artikel verstanden, mit dem die Kirche steht und fällt (KD IV/1, 588).
Eberhard Jüngel hat das kritisiert. Es sei doch gerade die „Funktion der Rechtfertigungslehre […] das Sein Jesu Christi für uns, an uns und mit uns anzusagen“ („Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Ein theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998, 24). Das ist natürlich richtig. Aber das „Sein Jesu Christi“ besteht nach Barth eben nicht nur darin, dass er Menschen in seinem hohenpriestlichen Amt ohne ihre Werke rechtfertigt. Gleichursprünglich heiligt er uns in seinem königlichen Amt zum Tun des Willens Gottes; und gleichursprünglich macht er Menschen in seinem prophetischen Amt zu Zeugen seiner selbst in der Gemeinschaft der Glaubenden und Geheiligten. Wie wichtig diese Breite des Verständnisses des Seins Jesu Christi für uns bleibt, zeigt unfreiwillig eine Passage aus dem Grundlagentext ausgerechnet bei der Darlegung des „sola fide“.
Entsprechend dem individuellen Verständnis der Rechtfertigung wird konstatiert, dass es für uns verborgen bleibt, ob ein Mensch wirklich glaubt oder nicht. Das ist natürlich auch richtig. Aber dem wird hinzugefügt: Wie sehr ein Mensch „sich kirchlich engagiert oder ob er sich nicht engagiert, sagt nichts (!) über seinen Glauben aus. […] Volkskirchliche Strukturen tragen diesem Sachverhalt theologisch Rechnung. Sie ermöglichen unterschiedliche Beteiligungsformen und –intensitäten in der Kirche und beurteilen nicht, ob ein Mensch genug glaubt, um dazuzugehören“ (91). Damit wird unter der Hand nicht nur die Bedeutung des Priestertums aller Glaubenden marginalisiert. Vor allem wird ein Kirchenmodell mit der Rechtfertigungslehre theologisch sanktioniert, von dem einerseits fraglich ist, ob es als solches im Dienste der Reformation der Kirche heute steht oder stehen kann und das sich andererseits in einer manifesten Krise befindet.
Diese Krise ist schlicht damit gegeben, dass – wie immer „Volkskirche“ des Näheren definiert wird – es sich um eine Flächenkirche handelt, die an Wohnorten präsent ist. Diese ererbte Struktur aber zerbröckelt, je weniger Volk zur Kirche in diesem Sinne gehört. Eine solche Entwicklung vollzieht sich derzeit. Ich brauche das nicht lange auszumalen. Die Zahl die Mitglieder der Evangelischen Kirche nimmt beständig und sogar dramatisch ab. Schuld daran ist ein ganzes Gemisch von Gründen. Die demographische Entwicklung der Überalterung der Gesellschaft dezimiert auch die Kirchen, deren Glieder sterben, ohne dass eine heran wachsende Generation ihren Platz hinreichend besetzt. Säkularistische, aber auch religiös flottierende Lebenseinstellungen führen zu Entfremdung der Menschen von der Kirche. Im Osten Deutschlands gehört zur Evangelischen Kirche – verursacht durch den nachhaltigen Einfluss einer atheistischen Weltanschauungsdiktatur – nur noch eine kleine Minderheit der Bevölkerung von ungefähr 20 %. In Eisleben, der Geburtsstadt Luthers, sind es gerade einmal 7 % und in Wittenberg auch nicht viel mehr. Es entstehen in östlichen Landen immer mehr weiße Flecken auf der kirchlichen Landkarte.
Weiter westlich sind die Verhältnisse nicht so dramatisch, aber der Abwärtstrend hält auch hier an. Darum hat die Evangelische Kirche in Deutschland 2006 mit dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ einen „Reformprozess“ in Gang gesetzt, der darauf zielt, die Kirche für diese Situation zu rüsten. Ich kann jetzt unmöglich diskutieren, was da alles auch durchaus Sinnvolles vorgeschlagen wurde und wie dieser Prozess sich ausgewirkt hat und auswirkt. Ich will vielmehr die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass mit dem Motto „Kirche der Freiheit“ ausdrücklich an den Geist der Reformation angeknüpft und insofern auch eine Erneuerung in diesem Geiste irgendwie angestrebt werden soll. Denn „Freiheit“ gilt so, wie das Zugehen auf das Reformationsjubiläum in der Evangelischen Kirche in Deutschland und in den Landeskirchen profiliert wird, als das eigentlich „Reformatorische“ in der freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft.
Die Frage ist nur: Freiheit wozu? Antwort: Die „Kirche der Freiheit“, die in jenem Impulspapier als „offen, einladend, weltverantwortlich und kulturorientiert“ charakterisiert wird, stärkt „das Christentum“ nach dem Kirchenmodell von Dietrich Rössler in „dreifacher Gestalt“: nämlich als „kirchliches Christentum“, als „öffentliches Christentum“ in „kulturellen Zusammenhängen“ und als „individualisiertes Christentum“ in unterschiedlichster „privater Frömmigkeit“. Das bedeutet, diese Kirche gewährleistet, dass es eine „allgemeine Zugehörigkeit“ (!) zur Kirche geben kann, die weder mit einer „bestimmten Gemeinde noch einem bestimmten kirchlichen Angebot“ etwas zu tun hat (38). Dementsprechend soll die kirchliche Aktivität nur noch zum Teil von den „Kirchenchristen“ – sprich: von den Gemeinden – ausgehen, sondern von Angeboten, welche die Institution Kirche organisiert, ohne Menschen auf die Gemeinde zu orientieren.
Es ist kein Zweifel, dass diese Vorstellung von der „Kirche der Freiheit“ den faktischen Zustand der Evangelischen Kirche im Ganzen als einer religiöse Angebote verwaltenden Institution spiegelt. Aber eine „Reform“, die regelrecht anstrebt, ein „Kulturchristentum“ zu befördern, das sich an Nebenerscheinungen des christlichen Glaubens delektiert, kann nicht ernstlich die Reformation für sich in Anspruch nehmen, der es um das Wesen des christlichen, biblischen Glaubens ging. Indem sie ein „Privatchristentum“ päppelt, das sich – mit Ulrich Beck zu reden – irgendeinen „eigenen Gott“ zusammenbastelt, dient sie nicht der „Transformation“ des reformatorischen Glaubens in unsere Zeit, der an seiner Zukunftskraft Teil hat. Der „Reformprozess“, der sich in der geschilderten Weise mit Jubiläumsfeiern von der Reformation entfernt, braucht darum Impulse, die ihn wirklich reformatorisch sein lassen. Ob solche Impulse von der Theologie Karl Barths aus heute ausgehen bzw. ausgehen können, ist allerdings gar nicht so sicher.
2. Umstrittener Anfang
Wenn wir nach „Impulsen“ fragen, die Karl Barth der Reformation der Kirche heute geben kann, dann geht es nicht um so etwas wie eine spezifische Reformationstheorie und schon gar Anweisungen für Reformationsjubiläen. Denn als reformatorisch und als darum impulsgebend für die Reformation der Kirche hat Barth sein theologisches Denken durchgehend verstanden. Das Motto dieser Tagung „immer neu mit dem Anfang anfangen“ gibt – unter Aufnahme einer immer wieder begegnenden Lieblingsformulierung von Karl Barth – zutreffend wieder, was damit gemeint ist. Reformatorisch denken, heißt, nicht aufzuhören mit dem Anfang anzufangen, den Gott mit der Menschheit in Jesus Christus und in Israel gemacht hat, ja kraft seines Geistes nicht aufhört zu machen. Der Satz des Jodocus von Lodenstein (1620-1677) von der ecclesia semper reformanda gehört darum zum Kernbestand von Barths theologischem Denken.
Diesen Satz unterschreiben denn auch cum grano salis alle, die sich das Anliegen der Reformation des 16. Jahrhunderts zu eigen machen, die Kirche von der Zuwendung Gottes zur Menschenwelt her zu gestalten, wie sie in der Bibel bezeugt wird. Selbstverständlich berufen sich auch die, die das Wesen der Reformation darin sehen, Menschen ein neues Selbstverständnis zu eröffnen und unter Berufung auf die „Volkskirche“ eine „allgemeine Zugehörigkeit“ von Menschen zur Kirche zu befördern, auf diesen Anfang. Dass sie dabei so gut wie nicht auf Karl Barth hören – obwohl zwischendurch immer mal ein Barmen-Jubiläum begangen wird – hängt jedoch damit zusammen, wie Barth in ihrer Wahrnehmung diesen Anfang verstanden und interpretiert hat; nämlich so, dass Menschen hinter ihm heute nur schwer hinterher zu kommen vermögen, ja, dass er sperrig und unkommunikabel, steil und unzeitgemäß ist.
In dem berühmten Vortrag „Reformation als Entscheidung“ vom 10. November 1933 in der Berliner Singakademie sagt Barth das sogar selber. Es könnte sich, gab er da zu erwägen, bei jenem Anfang Gottes um etwas handeln, dem „die europäische Menschheit […] nicht gewachsen ist“, mit dem wir (d.h. die deutschen Kirchen) „nichts anzufangen wissen, weil es eine untragbare Zumutung für uns bedeutet, weil es einen Glauben von uns verlangt, den wir nicht aufbringen können, weil es dem nicht gerecht wird, was nun einmal unser Anliegen ist“ (Karl Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1930-1933, hg. von Michael Beintker, Michael Hüttenhoff und Peter Zocher, Karl Barth Gesamtausgabe III/49, Zürich 2013, 547). In jenem Vortrag hatte Barth angesichts dessen, wie die „Deutschen Christen“ den Anfang Gottes in ihre Vorstellungen von einem völkischen, deutsch-nationalen Christentum einspeisten, nämlich geradezu eingehämmert, dass er eine Entscheidung Gottes über Menschen sei, die gänzlich außerhalb des Menschenmöglichen liege. Man kann sie nicht „durch neue Entscheidungen überholen, korrigieren und geradezu ersetzen“ (534). Für die Kirche bleibt hier nur eines: „Wiederholung und Bestätigung“ (535): „Wiederholung und Bestätigung“ dessen, dass Gott zu uns „ein für alle mal durch die Schrift “ und nur durch sie zu uns redet, dass wir unfähig sind, uns selbst zu Gott in Beziehung zu setzen, dass uns allein Christus vor Gott rechtfertigt und dass Gott in seiner freien, doppelten Prädestination definitiv über uns entschieden hat (vgl. 536-539).
Im Sinne heutiger political correctness wird Barth im Großen und Ganzen Recht gegeben, dass er mit solch wuchtigen theologischen Grundsätzen half, die Deutschen Christen zurück zu drängen und eine Bekennende Kirche ins Leben zu rufen. Trotzdem mehren sich nicht erst seit heute die Stimmen, welche die grundsätzliche „Rücksichtslosigkeit“, mit der Barth (wie er selber sagte, 548) das Einstimmen der Kirche in Gottes Entscheidung forderte, bedenklich finden. Dietrich Bonhoeffers Vorwurf des „Offenbarungspositivismus“, der Menschen die christliche Botschaft unter der Devise „Vogel friss oder stirb“ bloß vorsetzt, steht im Raum, wenngleich Bonhoeffer 1933 selbst ein „Offenbarungspositivist“ sondersgleichen war. Sätze von Barth wie die, dass „die Kirche überhaupt nicht den Menschen und also auch nicht dem deutschen Volk zu dienen habe“ (Theologische Existenz heute, GSA III/49, 324), gelten als nicht verallgemeinerungsfähig. Eine Kirche, die wie die unsere so sehr beunruhigt, dass sie eine Minderheit in der Gesellschaft ist und immer mehr wird, mag sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, um der Wahrheit von Gottes Anfang willen lieber zu einem „kleinsten Häuflein“ zu werden und in die „Katakomben“ zu gehen (ebd.).
Die Frage nach den Möglichkeiten von Menschen, sich für Gottes Entscheidung zu öffnen, die Barth 1933 schon als Frage entschieden verneint hat, steht darum in Theologie und Kirche mitten im Zugehen auf das Reformationsjubiläum auf der Tagesordnung. Sie verschafft der Forderung des großen Kontrahenten von Barth in der Nazi-Zeit, Emmanuel Hirsch, den reformatorischen Glauben neuzeitlich „umzuformen“, an den deutschen Theologischen Fakultäten deutlich Auftrieb. Unter Marginalisierung von Hirsch’s Rassismus und Antisemitismus hat sie die Tendenz, Gottes Anfang überhaupt nur noch in eine Möglichkeit von Menschen, sich selbst zu verstehen, einzureihen. Nicht Gott, sondern die „Religion“ als menschliche Möglichkeit ist dann das Thema der Theologie (vgl. Ulrich Barth, Gott oder Religion? Die religionstheoretische Bedeutung von Kants Destruktion der spekulativen Theologie, in: U. Barth/ W. Gräb, Gott im Selbstbewußtsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993, 11-34). Dem ordnen sich heute Stimmen zu, die eine „Entpositivierung“ und „Entsubstanzialisierung“ der christlichen Theologie fordern. Sie beanspruchen damit, statt Gottes mit ihrem eigenen religiösen Selbstbewusstsein in der Kirche selbst den Anfang zu machen (vgl. Notger Slenczka, Flucht aus den dogmatischen Loci, Zeitzeichen 8/ 2013, 45-48).
„Es ist nicht zu scherzen mit der Reformation“ – hat Barth 1933 angesichts der in die die Deutsche Evangelische Kirche eingedrungenen Irrlehre und Praxis der „Deutschen Christen“ (vgl. GSA III, 529) gesagt. Reformation bedeute angesichts dieser Irrlehre, „die den Stempel der Verkehrtheit so deutlich auf der Stirn“ trug, „daß es schon ein Konfirmand hätte müssen“ (vgl. GSA III/ 49, 334): Entscheidung zum Widerstand dagegen. Steht eine solche Entscheidung, ein solches steiles Verständnis der Reformation auch heute an? Können wir in dem Bemühen, einer dem Gottesglauben weithin entfremdeten, aber doch durchaus friedlichen Gesellschaft den Gottesglauben nahe zu bringen, nicht auch auf „Freundlichkeit und Schmeicheln, Gefälligkeit und Scherzen“ setzen? Ein Playmobil-Luther ist immerhin besser als gar keiner und die an überdimensionale Gummibärchen erinnernden Lutherfiguren en masse auf dem Wittenberger Marktplatz mögen vielleicht diesen und jenen veranlassen, danach zu fragen, wer das denn war und was er wollte. Doch gehört es auch zu diesem Scherzen, wenn in Kirche und Theologie begonnen wird, den Anfang, den Gott mit Menschen macht, in die Regie des individualistischen „Selbstverständnisses“ von Menschen zu nehmen und ihn also in ihr eigenes Anfangen zu integrieren?
3. „Bescheidene“ Reformation
Karl Barths Bemühen um ein Verständnis des Anfangs Gottes ist nicht bei der kategorischen Abweisung aller menschlichen Möglichkeiten, sich diesen Anfang zu erschließen, stehen geblieben. Diese Abweisung war in einer Zeit nötig, in der sich der religiöse Anschluss an diesen Anfang mit einer die Kirche zerstörenden, menschenfeindlichen Ideologie verband. Sie wird immer nötig, wenn die Kirche von außerhalb ihrer selbst unter Druck gerät, so dass ihr gar nichts anderes übrig bleibt, als sich auf das zu konzentrieren, was ihr Dasein allein begründet und rechtfertigt.
In erheblich abgeschatteter Weise bestand diese Nötigung auch in den Kirchen der DDR, die sich für ihren Weg als „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ deshalb nicht zufällig ziemlich weitgehend an Karl Barths Theologie orientierten (vgl. Michael Hüttenhoff/ Henning Theißen, Abwehr – Aneignung – Instrumentalisierung, Zur Rezeption Karl Barths in der DDR, leipzig 2015). Gerade in diesen Kirchen aber war die Frage, wie sie dem Atheismus, mit dem der sozialistische Staat die Menschen indoktrinierte und der zu einer massenhaften Gottesvergessenheit der Gesellschaft geführt hat, standhalten könne, unausweichlich. Deshalb wurde hier eine andere Dimension von Barths „anfangen mit dem Anfang“ wichtig, als nur die Negation menschlicher Möglichkeiten, diesen Anfang in ihre eigenen Anfänge zu integrieren.
Diese andere Dimension begegnet in der „Kirchlichen Dogmatik“ in Karl Barths Lehre von der Gnadenwahl, die er 1933 noch nicht ausgearbeitet hatte. Sie stellt in meinem Urteil (das nicht alle teilen) eine Zäsur in der „Kirchlichen Dogmatik“ dar, weil hier Gottes ewige Erwählung aller Menschen zur Partnerschaft mit Gott zum cantus firmus des theologischen Denkens Barths wird. Die Kritik an den menschlichen Bemächtigungen Gottes setzt damit nicht aus. Reformatorisches Denken ist per se religionskritisches Denken, das scharf unter die Lupe nimmt, was Menschen aus dem Anfang Gottes mit ihnen machen. Dabei bleibt es. Aber wenn alle Menschen als Partnerinnen und Partner eines Bundes Gottes mit ihnen verstanden werden, dann kann dieser Bund als Erschließung von Möglichkeiten für Menschen, zu Gott in Beziehung zu treten, verstanden werden. Dann sind selbst Menschen, die noch nie etwas von Jesus Christus gehört haben, nicht eine Nacht, in der alle Katzen grau sind. Dann sind gerade auch sie, weil Gott ihr „Freund, Bürge und Bruder“ ist, „wertbeständig […] und immer neu interessant“ (KD IV/3, 915f). Dann weist Gottes ewiger Anfang mit uns alle Menschen in das wahrhaft Menschenmögliche ein. Die Kirche aber ist die Gemeinschaft von Menschen, die beginnt, von dieser Einweisung Gebrauch zu machen.
Indem die Kirche so fragend existiert, ist Reformation der Kirche heute nicht etwas Gewaltiges, kein „ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung“ (Rechtfertigung und Freiheit, 11), so dass sie heute als „Weltbürgerin“ bezeichnet werden kann, wie es in dem neuesten Magazin zur Reformationsdekade gleich im ersten Satz heißt (Reformation und die eine Welt, 3).Vielmehr gilt nach Barth: „Reformation ist die vorläufige Erneuerung, ist bescheidener Gestaltwandel der Kirche von ihrem eigenen Ursprung her“ (Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4. Fragmente aus dem Nachlaß, GSA II, Zürich 1976, Vorlesungen 1959-1976, 329). Angesichts dessen, dass die Gemeinde in der Welt der Sünde immer auch „im inneren Verfall“ begriffen ist und dass es in der Gemeinde genügend „Scheinchristen“ gibt (vgl. KD IV/754), ist ihr nicht verheißen, „irgendeinmal die triumphierende Anhängerschaft einer sogenannten ‚Weltreligion‘ zu werden“ (Das christliche Leben, 157). Barth hebt immer wieder hervor, das die wirkliche Gemeinde bis ans Ende der Tage eine Minderheit sein wird (vgl. z.B. 825). Ihre Reformation wird darum nicht mit dem Anspruch verbunden sein, „Ansehen, Prestige, Einfluss und Glanz“ zu gewinnen und „im Getriebe der weltlichen Politik, Wissenschaft, Literatur und Kunst“ sowie in der „öffentlichen Meinung einen immer gesicherten Standort zu gewinnen“ (KD IV/2, 733).
Damit steht Barths „bescheidenes“ Verständnis der Reformation einerseits ziemlich quer zu dem, was derzeit mit dem Reformationsjubiläum im Jahre 2017 angestrebt wird. Andererseits lässt es aber auch Fragen offen, die der Kirche heute auf den Nägeln brennen. Ich verdeutliche das mit drei Schwerpunkten von Barths Verständnis der Gemeinde.
4. Welche Reformation braucht die Kirche heute?
4.1. Die Kirche als Gemeinde
Barth hat die Kirche – entsprechend CA VII und Barmen III – durchgehend als Gemeinde, als Versammlung bzw. Gemeinschaft der an Gott in Jesus Christus glaubenden Menschen verstanden. Angesichts dessen, dass sich mit dem Begriff „Kirche“ heute in der öffentlichen Wahrnehmung die Vorstellung einer religiösen Großinstitution verbindet, die mit professionellen Kadern religiöse Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt und zur Moral der Gesellschaft beiträgt, hat der Vf. der „Kirchlichen Dogmatik“ in seiner letzten Vorlesung es regelrecht für „theologisch ratsam“ gehalten „das dunkle und belastete Wort ‚Kirche‘ wenn nicht gänzlich, so doch tunlichst zu vermeiden“ (Einführung in die Evangelische Theologie, Zürich 1962). Von Reformation der Kirche kann nach Barth überhaupt nicht die Rede sein, wenn es nicht um die Erneuerung der Gemeinde als der konkreten Gemeinschaft der an Christus glaubenden Menschen, die ausdauernd in die Welt der Sünde verstrickt sind, geht. Dass ein Reformationsjubiläum zum Anlass genommen wird, ein gemeindeloses Christentum, eine „Kirche im Vorübergehen“ und dergleichen zu befördern, muss von daher geradezu als ein Abfall von der Reformation beurteilt werden.
Erstaunlicherweise hat Barth dieses Urteil über die aus der Reformationszeit ererbte Gestalt von Flächenkirchen, die deutlich nur zum geringeren Teil eine „Versammlung der Glaubenden“ sind, sondern in der Mitglieder einer religiösen Institution mit ihren Bedürfnissen betreut werden, aber nicht gefällt. Streng genommen läuft sein Kirchenverständnis auf die bekennende Personalgemeinde hinaus, wie sie ja in der weltweiten Christenheit viel häufiger anzutreffen ist, als in den Volks- und sogar Staatskirchen Europas. Bei Barth aber lesen wir, dass die Kirche ihr Wesen als bekennende Gemeinde sowohl in einer „Volkskirche“ wie sogar in einer „Staatskirche“ und dann auch in einer „Freikirche“ zur Geltung bringen könne (vgl. KD IV/3, 849).
Wenngleich er die „Volkskirche“ ganz sicher nicht als „Kirche des Volkes“ sondern mit Barmen VI als „Kirche für das Volk“ verstanden hat (vgl. KD III/4, 559), klafft hier erkennbar eine Lücke in seiner theologischen Argumentation. Er hat zwar die Ordnung der Gemeinde in Entsprechung zum Auftrag der Gemeinde, von dem gleich noch zu reden ist, als bruderschaftliches, ständig verbesserungsbedürftiges Dienstrecht verstanden (vgl. KD IV/2, 765-824). Die Art und Weise, wie die Gemeinde in der Gesellschaft in ihrer „soziologischen Struktur“ (KD IV/3, 845) bzw. als ein „soziologisches Gebilde“ (KD IV/2, 777) Platz gewinnt, aber hat er als eine Frage 2. Ordnung behandelt. Die Gemeinde lebe hier grundsätzlich in Abhängigkeit von einem „fremden“, „allgemeinen“, profanen Gut, bei dem keine Gesellschaftsstruktur einen grundsätzlichen Vorzug vor der anderen verdiene (vgl. KD IV/3, 845-847). Dementsprechend hat er auch das Staatskirchenrecht in das Ermessen des Staates gestellt. Dem Staat könne man es nicht verdenken, wenn er, indem er das Wesen der Kirche missverstehe, sie als einen „Verein oder als eine Körperschaft“ behandle, in der Menschen mit einer „christlichen Gesinnung“ vereinigt sind (KD IV/2, 778). Die Kirche aber könne sich die „Stellung und Funktion“ „nur gefallen lassen“, die er ihr im Rahmen seines „Vereinsrechtes bzw. Kooperationsrechtes“ zuweise (vgl. KD IV/2, 778). Ganz ohne kritische Nachfrage wird darum konstatiert, dass der Staat der Kirche „gewisse Privilegien verleihen, die bis zu ihrer Anerkennung als einer ‚Körperschaft öffentlichen Rechtes’ oder gar […] bis zu ihrer Anerkennung als Kirche der offiziellen Staatsreligion gehen mögen“ (KD IV/2, 779). Nur wenn der Staat die Freiheit der Kirche einschränke, sich selbst zu ordnen, müsse ihm widersprochen werden.
Was Barth überhaupt nicht wahrgenommen hat, ist, dass jenes Kooperationsrecht der Kirche in einer sowohl säkularen wie multireligiösen Gesellschaft ein Glaubwürdigkeitsproblem beschert. Im Falle der deutschen Verhältnisse besteht es darin, dass der demokratische Staat Leistungen für die Kirche erbringt, die sie in großem Umfang von der Finanzierung ihrer Dienste als Großorganisation und als Gemeinde entlastet. Der staatliche Einzug der Kirchensteuern, die staatliche Übernahme des Religionsunterrichtes, die Anstellung von Geistlichen als Beamte in der Bundeswehr, der Unterhalt von Theologischen Fakultäten, die Unterstützung der Diakonie sowie der christlichen Kulturpflege und nicht zuletzt die Zahlungen aufgrund des Reichdeputationshauptschlusses von 1813 gehören zu dem, was Barth „Privilegien“ nennt. Kann sie sich die Kirche angesichts der zunehmenden Kritik daran einfach „gefallen lassen“, indem sie erklärt, hier handele es sich um ein „Missverständnis“ ihrer selbst als Gemeinde Jesu Christi, von dem sie trotzdem profitiert?
Bei der Vereinigung der deutschen Evangelischen Kirchen nach der Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 hat sich von östlicher Seite her zaghafter Widerstand gegen dieses „Gefallenlassen“ im Namen des Barthschen Verständnisses der Kirche als einer „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ geregt. Er konnte nicht nachhaltig sein, weil auch die Flächenkirchen in der DDR nicht auf eigenen Füßen standen und die Kirchen der neuen Bundesländer bis heute nicht auf eigenen Füßen stehen. Dass sie trotz ihrer Verdienste um die „friedliche Revolution“ von der Bevölkerung des Ostens Deutschlands nach der deutschen Vereinigung im Stich gelassen wurden, hängt auch damit zusammen, dass sich post festum als erstes der Staat mit Kirchensteuerbescheiden meldete.
Der starke Impuls Barths für die stets notwendige Reformation der Gemeinde ist in einer so in Gesellschaft eingefügten Gesellschaft Kirche nicht zufällig ständig am Versickern. Das Aussetzen einer theologischen Argumentation in Hinblick darauf, wie sich die Kirche faktisch in der Gesellschaft „darstellt“, ist deshalb eine Lücke, in der sich verständlicherweise das Plädoyer für ein Christentum breit macht, für die das Wesen einer christlichen Gemeinde im geschilderten Sinne jedenfalls nicht im Zentrum steht. Was von diesem Christentum zu halten ist, hat die DDR-Zeit gelehrt. Wenn es unter Druck gerät und es gilt zu stehen, streicht es die Segel.
4.2. Die Verantwortlichkeit der ganzen Gemeinde für den Auftrag Jesu Christi
Dass die Gemeinde in Karl Barths Verständnis „Repräsentantin“ der ganzen in Christus versöhnten Menschenwelt ist, ist darin begründet, dass sie einen Auftrag hat. Sie ist nicht „Selbstzweck“, wie Barth unermüdlich eingeschärft hat. Sie ist nicht dazu da, um die „religiösen Bedürfnisse“ des Menschen „zu befriedigen“, um „seine Frömmigkeit zu betätigen“ und „seine frommen Erregungen auszuleben“ (KD III/4, 560). Bei aller Würdigung dessen, was ihnen der Glaube an Gott persönlich bedeutet, ist sie zu den Menschen gesandt, um ihnen Gott zu bezeugen, wie er sich ihnen in Jesus Christus und in Israel zugewandt hat. Sie hat „darzustellen“, was es für Menschen heißt, als mit Jesus Christus versöhnt zu leben. Das breite Verständnis des Seins Jesu Christi für uns, von dem wir oben geredet haben, bedeutet für die Gemeinde, dass sie sich fortwährend im Aufbruch zu den Menschen befindet, zu denen sie gesandt ist.
Dabei geht es um den Aufbruch der ganzen Gemeinde, d.h. aller ihrer Glieder. Das sagt nicht nur Barth. Darin stimmt alle Reformationserinnerung von heute zusammen. Das „Priestertum aller Glaubenden“ wird – obwohl das nicht so ganz stimmt – in allen Würdigungen der Reformation als eine besondere Errungenschaft der Reformation dargestellt. Aber was ist darunter zu verstehen? In „Kirche der Freiheit“ lesen wir: Das „Priestertum aller Gläubigen“ bestehe darin, dass „viele Protestanten in Politik, Wirtschaft, Kultur“ ohne „Kirchenjargon und dogmatische Formelsprache“ leben (35). Beliebt ist auch, das „Ehrenamt“ in der Gemeinde als Realisierung dieses Priestertums auszugeben. Doch „Ehrenamt“ ist eine Kategorie aus dem Vereinswesen, das dem inneren Florieren eines solchen Vereins dient und sicherlich nicht die Dynamik eines Aufbruchs in die Zukunft atmet. Was „Protestanten in Politik, Wirtschaft, Kultur“ von sich geben, kann sicherlich etwas vom Wesen des christlichen Glaubens und der christlichen Gemeinde in das gesellschaftliche Umfeld transportieren. Das „Priestertum aller Glaubenden“ bedeutet jedoch, dass alle Glaubenden und nicht nur ein paar Funktionäre in „Politik, Wirtschaft und Kultur“ den Auftrag haben, Jesus Christus in ihrer Lebenswelt zu bezeugen und die Darstellung der in Jesus Christus versöhnten Menschenwelt als die Aufgabe ihres Lebens zu begreifen.
Wenn es heute einen Reformationsbedarf der Evangelischen Kirche gibt, der sich im Leben der Gemeinde widerspiegelt, dann ist er sicherlich hier zu sehen. Die faktisch vorhandene Aufspaltung der Gemeinde in aktive und passive, in redende und schweigende, in bekennende und bloß „örtsansässige“ Glieder und Mitglieder widerspricht nach Barth dem „Priestertum aller Glaubenden“ und damit einer conditio sine qua non des reformatorischen Kirchenverständnisses (vgl. KD IV/2, 787). Dieser Widerspruch nistet vor allem im Verständnis des Glaubens als einer Privatangelegenheit von Menschen, die vom Auftrag der Gemeinde nicht berührt ist. Er wird heute durch die sogenannte „Wiederkehr der Religion“, gestützt. Von ihr versprechen sich viele in Kirche und Theologie ein „Wachsen der Kirche gegen den Trend“ ihrer Minorisierung in der Gesellschaft.
Tatsächlich dominiert bei dieser Wiederkehr aber die für die pluralistische Gesellschaft typische Privatisierung der Religion. Menschen picken sich – wenn sie nicht anderswo religiöse Erlebnisse suchen – aus dem „Angebot“ der Kirchen heraus, was ihnen für ihre Lebensführung als nützlich erscheint. Sie schieben damit den Dienst von Verkündigung, Seelsorge, Diakonie, Kirchenleitung usw. zwangsläufig in die Position der Alleinzuständigkeit für das Leben der Kirche. Diesem Zustand soll in jenem Reformprozess der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Angebot von „Glaubenskursen“ und allen möglichen Bildungsveranstaltungen gewehrt werden. Dergleichen soll Gemeindeglieder dazu befähigen, selbst von ihrem Glauben in ihrer Lebenswelt zu reden und also wirklich Trägerinnen und Träger der Botschaft des Evangeliums zu werden.
In diesem Sinne ist der Satz Karl Barths: „in der christlichen Gemeinde sind entweder Alle Amtsträger oder Keiner – wenn aber Alle, dann alle als Dienstleute“ (KD IV/2, 787) cum grano salis durchaus zustimmungsfähig. Es muss nach Barmen IV in der Gemeinde in Aufgliederung des einen Dienstes verschiedene Dienste geben, die alle in dem einen Dienstauftrag an die ganze Gemeinde gründen und deshalb keine hierarchischen Verhältnisse entstehen lassen. Doch wenn die Zustimmung dazu nicht gleichzeitig nachhaltig mit der Zustimmung dazu verbunden ist, dass es „kein legitimes Privatchristchristentum“ gibt (KD IV/1, 769), dann bleiben die Bemühungen um die Belebung der Verantwortlichkeit aller für den Auftrag der Gemeinde Tropfen auf den heißen Stein. Die Belebung des „Priestertums aller Glaubenden“, d. h ihrer Verantwortlichkeit für das Bekanntwerden des Evangeliums und die Ausstrahlungskraft des christlichen Lebens muss darum grundlegender geschehen, als mit ein paar Sonderveranstaltungen geschieht, welche die meisten Mitglieder der Evangelischen Kirche ohnehin nicht interessieren.
Dazu, wie dem abzuhelfen ist, hat Karl Barth einen Rat von großer Reichweite für die Praxis der Gemeinde gegeben. Es ist jedoch von allen Impulsen, die von seiner Theologie für die Reformation der Kirche heute ausgehen, der am wenigsten wirksame ausdrückliche Impuls geblieben.
4.3. Der Beginn des christlichen Lebens: Dienstantritt
Karl Barth hat die Praxis der Kindertaufe in dem von ihm selbst noch veröffentlichten letzten fragmentarischen Band der „Kirchlichen Dogmatik“ als eine „tief unordentliche Taufpraxis“ abgelehnt, „an der die Kirche […], folgenschwer nach allen Seiten, leidet“ (KD IV/4, 213f.). Ich kann die Begründungen dafür hier am Schluss dieses Vortrages unmöglich alle aufführen und diskutieren. Darum nur so viel: Im Kern geht es zum Zweierlei:
Erstens: Barth hat grundsätzlich kritisiert, dass die Taufe wie das Abendmahl vom Neuen Testament her als die Gnade Gottes vermittelnde „Sakramente“ verstanden werden dürfen, in der diese Gnade Menschen auf eine geheimnisvolle Weise vermittelt und „zugeeignet“ wird. Der christliche Glaube kennt nur ein „Sakrament“, in welchem Gott seine Gnade uns Menschen zuwendet. Das ist das Geheimnis des Zusammenseins von Gott und Mensch in Jesus Christus, welches Menschen durch das Wirken des Heiligen Geistes zugeeignet wird. Barth nannte das „Geisttaufe“ (vgl. KD IV/3, 3-44). Die Zeichenhandlungen Taufe und Abendmahl sind demgegenüber nicht so etwas wie weitere Heilsereignisse. Es sind Zeichenhandlungen, die Jesus Christus den Seinen geboten hat, um ihre Zugehörigkeit zu ihm zu bekennen und zum Ausdruck zu bringen.
Zweitens. Im Falle der Taufe mit Wasser handelt es sich um das freie Ja eines Menschen zu einem Leben in der Nachfolge Jesu Christi. So wie Jesus Christus seinen Dienst der Verkündigung des Reiches Gottes antrat, indem er sich von Johannes taufen ließ, so bekennen sich Christinnen und Christen im Befolgen seines Gebotes zu ihm, indem sie sich wie er mit Wasser taufen lassen und dadurch Glied seiner Gemeinde werden. Das ist der „erste Schrit“ eines verantwortlichen christlichen Lebens oder der „Dienstantritt“ eines Christenmenschen (vgl. KD IV/4, 45-234).
Von daher ist die Ablehnung der Kinder- oder Säuglingstaufe, die entweder nach dem eigenen Glauben des Täuflings nicht fragt oder ihn mit allerlei Ersatzargumenten nachliefert, stringent. Die kirchliche Kinder- und Säuglingstaufpraxis kreiert nach Barth eine schlafende und schnarchende Christenheit, der ihre Bestimmung, Zeugin Jesu Christi in der Welt zu sein, verdunkelt wird. Barth hat es darum Luther wie Calvin angelastet, dass sie sich an dieser Verdunklung beteiligt und damit der Verantwortlichkeit aller Glaubenden für das Zeugnis von Jesus Christus einen schlechten Dienst erwiesen haben.
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat diese Taufauffassung Barths eine lebhafte Debatte ausgelöst. Sie hatte zur Folge, dass in vielen Lebensordnungen der Landeskirchen die Möglichkeit für einen sogenannten „Taufaufschub“ eingeräumt wurde. Christliche Eltern können danach die Taufe ihrer Kinder aufschieben, bis diese selbst in der Lage sind, zu verstehen, warum sie sich taufen lassen. Wenn ich recht sehe, machen davon heute aber nur noch ganz wenige Eltern Gebrauch. Die Kindertaufpraxis hat eine solche religiöse Beharrungskraft bewiesen, die ihre Problematisierung durch Barth fast in Vergessenheit geraten ließ.
Der Preis für dieses Vergessen ist freilich ziemlich hoch. Praktisch wird die Kinder- und Säuglingstaufe so ins Werk gesetzt, dass sie in eine Segenshandlung mit Wasser umgedeutet und also in den Schöpfungsglauben transportiert wird. In einer Broschüre zum von der Evangelischen Kirche im Jahre 2011 ausgerufenen „Jahr der Taufe“ sagt der Bischof meiner Landeskirche gleich zu Beginn: „Eltern wünschen sich Schutz und Segen für ihre Kinder“. Um das zu unterstreichen, wird mit einer regelrechten Wassertheologie aufgewartet. Sie prägt ein, dass ohne Wasser das Leben versiege, weshalb sich Menschen zu allen Zeiten „in der Nähe von Flüssen, Bächen und Quellen niedergelassen“ haben. „Wasser erfrischt und macht rein [...] So wie wir Wasser zum Leben brauchen, brauchen wir Gott“ (9). Das mag sein. Bloß hat das Ausdeuten der Symbolkraft des Wassers im Allgemeinen mit dem Sinn der Taufe nichts oder nur am Rande etwas zu tun.
Dass unsere Kirche diesen Rand statt ihr Zentrum stark macht, ist angesichts des Auftrags, unter dem sie steht, unverständlich. Das Magazin der Evangelischen Kirche in Deutschland zeigte zum „Jahr der Taufe“ auf dem cover dieses Magazins ein in Richtung Meer hopsendes Mädchen, das uns Freiheit irgendwie im Zusammenhang mit Wasser signalisieren soll. Es pries überdies allerhand religiösen Kitsch an: Schlüsselbänder mit der Aufschrift „Gottesgeschenk“, „Armbänder, Kerzen und Handschuhe zum Abwischen des Taufwassers“, Mini-Puzzles, das Heft „Tauftropfen“, Postkarten und e-cards mit den Gesichtern von glücklichen Menschen, einen Taufkoffer für Pfarrerinnen und Pfarrer, der u.a. ein Taufkleid, einen Bronzeengel, blaue Glasnuggets, eine Flasche mit Seewasser und ein Ledersäckchen mit Muscheln enthält. Wie sollen sich Menschen, welche die Taufe für ihre Kinder begehren, angesichts dessen bewusst werden, dass sie diese Kinder auf Weg eines verantwortlichen Christenlebens schicken? Wenn die Kinder- und Säuglingstaufpraxis nun einmal offenkundig so eine religiöse Beharrungskraft hat, dann muss sich die Kirche fragen, wie sie mit ihr dem Sinn der christlichen Taufe, dass Menschen „in Christus“ „in einem neuen Leben wandeln“ (Römer 6, 4) Nachdruck verleihen möchte.
Karl Barth war sich, wie er im Vorwort zu KD IV/4 launig-resigniert bemerkte, dessen wohl bewusst, dass er mit seiner Tauflehre „in einer gewissen Einsamkeit auf dem theologisch-kirchlichen Plan stehen“ werde und dabei sei, sich als alter Theologe, dem Kirche und Theologie so viel zu verdanken haben, „einen schlechten Abgang zu verschaffen“ (KD IV/4, XII). Ich für meinen Teil habe diesen „Abgang“ aber nie als „schlecht“ verstanden. Es gibt Wege und Möglichkeiten, die Säuglings- und Kindertaufpraxis in das Leben einer verantwortlichen Gemeinde zu integrieren, die Barths Anliegen Rechnung tragen, Christenmenschen am Maßstab der Bibel den Weg in das Leben von freien Partnerinnen und Partnern des menschenfreundlichen Gottes zu weisen. Denn das ist ja überhaupt der entscheidende Impuls, der von Barths Theologie in Hinblick auf die „Reformation der Kirche heute“ ausgeht: Der in seiner unendlichen Gnade freie Gott, der nicht aufhört, uns Menschen frei zu machen, seine Partnerinnen und Partner zu sein.
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