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23.09.2017 13:44 Age: 7 yrs
Category: Vorträge

Freiheit, die Mut macht. Warum Christinnen und Christen sich etwas trauen

Vortrag am 21.09.2017 im Rahmen der Ausstellung "Weddinger Freiheiten"


Dass Freiheit Mut macht, ist alles andere als selbstverständlich. Ich kenne ziemlich viele Menschen, denen Freiheit eher Angst macht. Denn frei sein in einem absoluten Sinne bedeutet ja, ganz ungesichert von nichts und niemand abhängig zu sein. Frei sein bedeutet, alles alleine zu entscheiden, wie wir leben wollen. Freiheit ist – mit einer berühmten Formulierung gesprochen – unser „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“ (I. Kant). Ohne von Vorschriften, Gesetzen, Zwängen, Gewohnheiten und vor allem von anderen Menschen abhängig  zu sein, entscheidet ein freier Mensch allein aufgrund seines eigenen Urteils und seiner eigenen Willensbildung, wie er leben möchte und wie er handeln möchte.

            Doch kann er das wirklich? – werden wir sofort fragen. Wir sind doch in eine Welt hinein geboren, in der unser Denken und Empfinden schon immer von unseren Eltern, von der Schule, von unseren Erfahrungen, von Gewohnheiten des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens und nicht zuletzt von den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen unserer persönlichen Existenz geprägt ist. Wir fangen niemals vom Nullpunkt an, wenn wir uns so oder so entscheiden. Ein gleichsam über allen Verhältnissen unseres Lebens schwebender Mensch, der von nichts und niemand abhängig ist, erscheint uns auf den ersten Blick deshalb als eine ziemlich abstrakte Figur, die es im wirklichen Leben gar nicht gibt. Oder doch?

            Wir leben in einer weltanschaulich und religiös pluralistischen Gesellschaft, in der die überlieferten Gewissheiten eines guten Lebens sichtlich am Zerbröseln sind. Solche Gewissheiten, denen alle zustimmen, scheint es in unserer Gesellschaft nicht mehr zu geben. Denn alle religiösen, weltanschaulichen und ethischen Überzeugungen relativieren sich in unserer vielstimmigen Gesellschaft offenkundig gegenseitig. Für sehr, sehr viele Menschen ist heute nichts oder wenig mehr aus dem überlieferten Repertoire für ein gutes menschliches Leben, das ihm einen tragenden Sinn gibt, letztlich verbindlich.

„Sinn“ bedeutet: In einen Zusammenhang hinein zu gehören, der uns trägt, der uns umfängt und uns Perspektiven des Voranschreitens im Leben eröffnet. Sinnlosigkeit ist das Herausfallen aus allen Zusammenhängen. Sinnlosigkeit ist das Lebensgefühl, nirgendwo hinzugehören als nur zu sich selbst. Man kann das „Freiheit“ nennen und man nennt es auch so. Doch es ist letztendlich eine Freiheit zu nichts, wie sie etwa Dietrich Bonhoeffer schon vor über 70 Jahren in seinem Ethikfragment „Erbe und Verfall“ beschrieben hat. „Nichts haftet und behaftet“, sagt er da von seinen Zeitgenossen. „Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung ebenso wie unerhörteste Verbrechen hinterlassen in der vergesslichen Seele keine Spur. […] An die Stelle der ‚großen Überzeugungen‘ und des Suchens des eigenen Weges tritt das leichtfertige Segeln mit dem Wind. […]. Weil es kein Vertrauen zur Wahrheit gibt, tritt an ihre Stelle die sophistische Propaganda. […] Auf die Frage, was bleibt, gibt es nur eine Antwort; die Angst vor dem Nichts“ (Ethik, DBW 6, 120f.).

Freiheit, die Angst macht, ist aber eine problematische Basis für das menschliche Zusammenleben. Sie verführt – wie wir gerade heute wieder erfahren – Menschen dazu, sich in vermeintlichen Sicherheiten der eigenen, örtlich begrenzten, nationalen oder kulturellen Lebenswelt einzubunkern. Sie stachelt Menschen an, sich gegen alles abzuschotten, was ihnen neu und ungewohnt begegnet. Freiheit, die Angst macht, verleiht also eine Maulwurfsperspektive. Sie führt geradewegs in die Unfreiheit der Abhängigkeit vom Eigennutz. Der aber kann sich die fragwürdigsten wie die „edelsten“ Parolen zu Eigen machen, um zu kaschieren, dass im Gewande der Freiheit hier nur ein – riesengroßer Angsthase steckt.

Freiheit, die Angst macht, ist also – kurz gesagt – überhaupt keine Freiheit, die diesen Namen verdient. Freiheit, die keine Zukunft freien Lebens eröffnet, richtet unser „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen“, vielmehr zu Grunde. Freiheit verdient demnach nur zu heißen, was auch in Zukunft Mut macht, sich dieses Vermögens gegen alle Widerstände der Angst zu bedienen. Gerade um solche Freiheit handelt es sich bei der Reformation, auf die sich unsere Kirche beim Reformationsjubiläum dieses Jahres besinnt.

„Kirche der Freiheit“ war deshalb das Motto, unter dem die Evangelische Kirche in Deutschland im Jahre 2006 ihre Gliedkirchen und alle ihre Gemeinden aufgerufen hat, sich als Kirchen aus dem Geiste der Reformation auch heute zu beweisen. Sie hat damit das Stichwort von Martin Luthers wirkmächtiger Schrift aufgenommen, die er ein Jahr nach der Veröffentlichung der 95 Thesen über den Ablass verfasst hat. Sie heißt „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. „Freiheit“ gilt seither und bis heute als das spezifisch Reformatorische. Das aber bedeutet dreierlei

1)      Bei der Freiheit von Christenmenschen es geht um die Freiheit, die Gott schenkt

2)      Darum gilt: Die Wahrheit wird euch frei machen

3)      Daraus folgt: Alle Christinnen und Christen sind „Priester“.

 1. Es geht um Gott

Worin müsste eigentlich die Reformation, die Erneuerung unserer Kirche heute bestehen? – Diese Frage tauchte bei den Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum immer wieder auf. Sie meint, welche Veränderungen sich in unserer Kirche vollziehen müssen, um sich eindeutig als Kirche der Reformation darzustellen. Doch worauf sollen wir da verweisen, wenn wir uns auf unsere kirchliche Realität konzentrieren? Auf die Fusionen von Gemeinden, die sich der abnehmenden Zahl von Mitgliedern der deutschen evangelischen Kirchen verdanken? Auf die Neu- und Umstrukturierungen von Landeskirchen, Kirchenkreisen, Gemeinden und Verwaltungsämtern, die ebenfalls diesem Faktum geschuldet sind? Auf Projekte, mit denen unsere Kirche auf neue Herausforderungen wie die Flüchtlingskrise oder das Verhältnis zu anderen Religionen reagiert? Auf Trauungen für gleichgeschlechtliche Paare? Auf  das Bemühen, mit dem digitalen Zeitalter Schritt zu halten? Auf die gerade revidierte Lutherbibel?

Wir könnten so fortfahren, eine große Vielfalt von Veränderungen aufzuzählen, die sich gegenwärtig in unserer Kirche vollziehen. Es ist nichts dagegen einwenden, diese Veränderungen „Reformen“ zu nennen. Aber die „Reformation“ der Kirche, um die es Luther und den anderen Reformatoren des 16. Jahrhunderts ging, decken wir damit nicht ab.

Diese Reformation hatte zwar auch eine Fülle von Reformen zur Folge. Sie wurden mehr oder weniger gelungen ins Werk gesetzt. Sie sind für uns heute als eine Kirche ohne Papst, ohne Messe, ohne sieben Sakramente, ohne Maria als Miterlöserin, ohne die Heiligen, Reliquien, Fegefeuer, Ablass, usw. selbstverständlich. Damals führten sie gegen die erklärte Absicht Luthers und der anderen Reformatoren zur Trennung der evangelischen Kirchen von der römisch-katholischen Kirche. Sie waren aber im Geiste der Reformatoren kein von Menschen initiiertes „Reformprojekt“ der Kirche.

Solche Projekte, die Fehlentwicklungen der damaligen römisch-katholischen Kirche wie ihre Entfernung von der Bibel, ihre Selbstherrlichkeit, Prunksucht und Erstarrung in Traditionen überwinden wollten, gab es auch vor und neben Luther. Was den evangelischen Reformen ihre eigentliche Triebkraft verlieh, aber war etwas anderes. Das war das Ergriffensein von Gott, wie es Martin Luther beim ausdauernden Studium der Bibel gepackt hatte und das dann in rasantem Tempo Kreise zog. Die Gewissheit, dass Gott der eigentliche Initiator der Erneuerung der Kirche sei, hat die Reformen beflügelt, ihnen den großen Schwung verliehen und den Mut frei gesetzt, mit dem Kirchesein noch einmal neu anzufangen.  Denn, so heißt es in der Vorrede zur Sammlung der Lutherschriften, die erst nach seinem Tode erschienen ist:  „Wir sind es doch nicht, die da könnten die Kirche erhalten, unsere Vorfahren sind es auch nicht gewesen, unsere Nachkommen werden’s auch nicht sein. Sondern der ist’s gewesen, der da spricht: Ich bin bei euch bis an der Welt Ende“ (WA 54, 470).

Die Gewissheit im Dienst des Erhaltens der Kirche durch Jesus Christus zu stehen, begründete deshalb den Mut, eine Weltmacht, welche die römisch-katholische Kirche damals war, in Frage zu stellen. Das fing ganz klein in Luthers Studierstube an. Dort machte er eine Entdeckung, von der er selbst gesagt hat, er kam sich danach vor, als sei er „ganz und gar neu geboren und durch die offenen Tore im Paradies selber eingegangen“ (Vorrede zu Bd. 1 der Opera Latina, 1545, WA 54, 185). Die Reformation war darum in ihrem Ursprung und Kern Gottesentdeckung, Gotteserkenntnis. Das ist das Erste, was wir im Blick haben müssen, wenn wir nach der Reformation heute fragen.

Dieses Erste besteht in Luthers Entdeckung, dass Gott nicht in Gesetzen, Forderungen und Drohungen zu Hause ist, mit denen die Kirche zur damaligen Zeit den Menschen und auch ihm selbst Angst machte und „zum Verzweifeln trieb“ (EG 341, 3). Wer Gott ist und wie er mit uns umgeht, wird vielmehr nach Römer 1, 17 im Evangelium, in der guten Botschaft von Jesus Christus offenbar. Hier begegnet Gott uns, hat Luther in einer der berühmten Invokavitpredigten vom März 1522 gesagt, als ein „glühender Backofen voller Liebe, der da von der Erde bis an den Himmel reicht“. Solch ein „glühender Backhofen“ hört nicht auf, mit dem Feuer seiner Liebe mit Menschen, die in Schuld und Versagen verstrickt sind, einen neuen Anfang zu machen. Die „Freiheit eines Christenmenschen“ gründet in dieser Befreiungserfahrung. In ihr wird der befreiende Gott (!) zur täglichen Ausgangsbasis des Lebens von Menschen, denen er mit der Kraft seines Geistes Glauben schenkt.

            Aus Kraft dieses Neuanfangs Gottes mit uns wurden also die Reformen der Kirche im 16. Jahrhundert  gewagt. Ohne Gottesgewissheit hätte Luther 1521 in Worms sich nicht den Widerruf seiner Schriften verweigert. Ohne Gottesgewissheit hätte der ängstliche Melanchthon 1530 in Augsburg die Augsburgische Konfession nicht mit Psalm 119, 46 überschreiben können: „Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen und schäme mich nicht“.

Unterdessen ist sehr viel Zeit ins Land gegangen. Die reformatorischen Aufbrüche im Namen Gottes von damals sind in unseren Kirchen zur Normalität geworden. Doch es ist eine Normalität, die es inmitten unserer säkularen pluralistischen Gesellschaft schwer hat, zu vermitteln, dass es Gott ist, dem sie sich verdankt. Ja es ist eine Normalität, die es noch viel schwerer hat, Menschen dafür zu gewinnen, Gott in ihrem Leben die Initiative zu überlassen. Denn die Vorstellung vom strafenden und drohenden Gott, von dem die Reformation die Menschen frei machte, ist nicht mehr das Problem, das Menschen heute zusetzt, so dass sie Botschaft vom liebenden Gott als Befreiung zu begrüßen vermögen.

Dieses Problem hat sich für die Menschen, die im Sog des neuzeitlichen Atheismus den Glauben an Gott verloren haben, von selbst erledigt. Ist kein Gott, dann ist sein Strafen wie sein Lieben nichts, was beunruhigt oder bewegt. Das Problem des strafenden Gottes haben aber auch Menschen nicht, die sich „religiös“ verstehen, jedoch mit unserer Kirche nichts zu tun haben wollen. Sie versprechen sich von der Vertiefung in allerhand „Jenseitiges“, Mystisches, Esoterisches, auch Spiritistisches eine schöne Intensivierung des Lebens. Beides – die atheistische Gottesvergessenheit und die Regungen von Religiosität abseits unserer Kirchen – stellen zweifellos die größten Herausforderungen für die Kirche, für jede Gemeinde in unserer Zeit dar, weil sie sich nicht damit abfinden kann, dass Gottes Initiative mit uns Menschen von Gottesvergessenheit und diffuser Religiosität eingenebelt wird.

Wie aber soll unsere Kirche für den Glauben an Gott eintreten, wenn sich die reformatorische Grundkonstellation (strafender Gott einerseits – liebender Gott andererseits) für das Erwecken des Glaubens aufgelöst hat? Denn darin sind wir uns ja sicherlich alle einig. Eine christliche Kirche ist nur darum nötig, um Gott, wie er uns mit dem Geist Jesu Christi aktuell begegnet, allen Menschen zu bezeugen und Menschen zum Glauben an ihn einzuladen. Das ist ihr von Jesus Christus selbst aufgetragen (Matthäus 28, 19).

Ohne diesen Auftrag muss sie nicht sein. Ohne diesen Auftrag wären wir höchstens ein religiöser Verein, dessen Mitglieder ihre Frömmigkeit pflegen. Gott ist in Jesus Christus aber kein Vereinsgründer. Wer an ihn glaubt, der Himmel und Erde geschaffen hat, ist zugleich gesendet, die Botschaft von seiner Liebe hinaus zu tragen in alle Welt. Das traut er sich ein Christenmensch in christlicher Freiheit zu, indem die Verheißung Jesu „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8, 32) sein Leben bestimmt.

 

2. Die Wahrheit wird euch frei machen

Wir setzen noch einmal ein mit Luthers Freiheitsschrift ein. Ihr erster Satz lautet geradezu überschwänglich: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemanden untertan“. Er kann sich aufrichten! Ein weiter Horizont des Lebens tut sich für ihn auf. Denn seine Füße sind von Gott „auf einen weiten Raum“ gestellt (Psalm 31, 9). In diesem weiten Raum aber ist es allen vom Evangelium der Menschenliebe Gottes berührten Menschen ein Herzensanliegen, in der Freiheit von Geliebten und mutig dafür einzutreten, dass Gottes Schöpfung und seine Geschöpfe nur in seiner Liebe für Zeit und Ewigkeit eine Zukunft haben.

Luther hat das damals – für unsere Ohren etwas altväterlich – so ausgedrückt: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Das will sagen: Es lässt sich das Leid, das Elend und die Probleme angehen, die das Leben seiner Mitmenschen quälen und belasten. Sie werden ihm zum beständigen Aufruf, zu helfen, wo er nur kann; sich also zum „Knecht“ der Probleme seiner Nächsten zu machen. 

Wer nun aufmerksam verfolgt, wie unsere Kirche das Reformationsjubiläum begeht, wird bemerken, dass hier der Schwerpunkt auf den zweiten Satz von Luthers Freiheitsschrift gelegt wird. Die Güte des Glaubens an Gott, soll – reformatorisch gesprochen – vor allem an unseren „guten Werken“ demonstriert werden. Das Christentum stellt sich so als eine Religion dar, die für eine menschenfreundliche Ethik gut steht. „Die Welt verändern“ heißt ein von Margot Käßmann und Heinrich Bedfort-Strohm heraus gegebener Band, der uns erklären soll, „was der Glaube heute zu sagen hat“ (Berlin 2016, edition chrismon). Verändert er die Welt zum Guten, dann wird er auch von unserer Gesellschaft geschätzt. „Martin Luthers Theologie ist eine Theologie der Befreiung, die jeden Menschen dazu befähigt, Verantwortung für die Welt zu übernehmen“, hat der Bundespräsident Frank Walter Steinmeier gesagt, als er noch Außenminister war, gesagt („Mischt euch ein. Zum Verhältnis von Reformation und Außenpolitik“, ZZ 17 2016, 8).

            Es ist nun überhaupt nichts dagegen sagen, wie wichtig es ist, dass sich die Gemeinden, Christinnen und Christen für ein gutes Leben ihrer von Not und Elend geplagten Mitmenschen engagieren. Doch wir müssen aufpassen, dass wir über der Wertschätzung unserer „guten Taten“ nicht unseren Auftrag aus dem Blick verlieren. Ein gesellschaftliches Reformunternehmen ist eine Kirche Jesu Christi inmitten von all dem, was sie für die Gesellschaft Gutes bedeutet, nicht. Ihr Auftrag ist, Menschen einzuladen, einen Horizont des Lebens zu gewinnen, der in der ewig neuen Liebe Gottes gründet. „Das Leben“, hat Luther darum bei Tische redend im Jahre 1533 gesagt, „wird schlecht geführt bei uns wie bei den Papisten. Deshalb streiten wir nicht über das Leben […] aber wenn es ums’s Wort geht, ob man recht lehrt, da kämpfe ich. […] Das ist der Gans an den Kragen gegriffen“ (WATR I, 295).

„Lehren“ klingt für uns heute in Zusammenhang mit Glaubensdingen freilich nicht so gut. Uns fallen da weltferne Doktrinen und Dogmen ein. In Luthers Sprachgebrauch ist „Lehren“ jedoch das lebensnahe Auslegen und Aktualisieren der Wahrheit dessen, der gesagt hat: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14, 6) und die „Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8, 32). Den „Glauben und die Wahrheit zu lehren“, hat Luther deshalb als seine eigentliche Berufung angesehen (vgl. WA 19, 261, 28f.).

Mit der Wahrheit aber hat unsere Kirche, haben viele Christinnen und Christen heute ein Problem. Man merkt das daran, dass schon alleine dieses Wort in den Perspektivpapieren unserer Kirche kaum vorkommt. Auch von den 95 Promis aus Gesellschaft, Kirche und Islam, die in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ auf die Frage antworten sollten, was für sie der „Kern des Glaubens“ sei, ist gerade mal dem Dreiundneunzigsten die Wahrheit einfallen. Umso häufiger kommt dagegen das Wort „Werte“ oder „christliche Werte“ vor. Diese „Werte“ aber liegen fast alle auf der Linie des zweiten Satzes von Luthers Freiheitsschrift, d.h. des Einsatzes für eine gerechte, tolerante, hilfsbereite, dialogfähige Gesellschaft.

Das Reden von „Werten“ hat hier ganz offenkundig das Geltendmachen von „Wahrheit“ verdrängt. Man kann auch ganz gut erklären, wie es dazu gekommen ist. Die Botschaft, Jesus Christus sei der „Weg, die Wahrheit und das Leben“ steht in unserer Gesellschaft unter Verdacht, sich hochmütig über andere religiöse und weltanschauliche Wahrheiten zu erheben. Hinzu kommt, dass Menschen, die sich von aller „Religion“ verabschiedet haben, überhaupt keine „Wahrheit“ mehr kennen, die das Leben aller Menschen trägt. Es ist also in Bezug auf die Wahrheit ein großes Vakuum entstanden, ein richtiges „schwarzes Loch“.

Die Rede von den „Werten“, denen alle zustimmen können, soll dieses Loch füllen. Doch was ist mit „Werten“ gemeint? Eigentlich ist das ja ein Wort aus der Handelssprache. Der Wert einer Handelsware drückt das Gewicht aus, das ein Produkt für den Gebrauch hat. „Werte“ im übertragenen Sinne geben den Grundlagen unseres Handelns demnach unter dem Gesichtspunkt Gewicht, das sie dem Zusammenleben dienen.

Gewichte, die uns auferlegt werden, aber fordern von uns die Anstrengung, sie zu tragen. Sie drücken uns auf eine Bahn, in der ein gesetzlicher, aggressiver Ton vorherrscht. Denn Werte wollen verteidigt und gegen andere Werte durchgesetzt werden. Werte setzen Menschen in Parteien, Organisationen und Initiativen wohl in Trab. Aber machen sie frei?

Im Sinne von Luthers Verständnis der Freiheit ist das sicher nicht der Fall. Denn Werte sind Gesetze, die wir uns auferlegen, während die Freiheit eines Christenmenschen gerade darin besteht, sich in der Freiheit von solchen Gesetzen durch Gottes Wahrheit im Tun und Verhalten immer aufs Neue inspirieren zu lassen. Es ist deshalb problematisch, wenn unsere Kirche sich so darstellt, als sie eine Hüterin von Werten wie andere Parteien und Organisationen.

Denn Wahrheit ist im evangelischen Sinne kein „Wert“, den wir besitzen und den wir anderen um die Ohren hauen. Wahrheit ist jener „Backofen voller Liebe“ der Christenmenschen frei, mutig selbstverständlich und ohne alle Kampfgebärden das tun lässt, was ihren Nächsten dient. Denn, so sagt Luther in der Freiheitsschrift: Ein Christenmensch tut „frei, fröhlich und umsonst“, „aus Lust“, „aus Liebe und Freiheit“, was Gott wohl gefällt (vgl. WA 7, 34-37). Zu solcher Freiheit einzuladen, trauen sich Christinnen und Christen, traut sich die evangelische Kirche inmitten einer Gesellschaft, in der es von sich bekämpfenden „Werten“ nur so wimmelt.

 

3. Alle Christinnen und Christen sind „Priester“

Wir nehmen ein drittes Mal auf Luthers Freiheitsschrift Bezug – diesmal wieder auf ihren ersten Satz. Dass ein Christenmensch als „ein freier Herr über alle Dinge niemand untertan sei“,  hat nach allgemeiner Überzeugung die Gewissenfreiheit begründet. Nur was Menschen mit ihrem eigenen Gewissen vor Gott verantworten können, ist für sie verbindlich. In der Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ von 1520, die ein Seitenstück zur Freiheitsschrift ist, hat Luther das mit starken, heute viel zitierten Worten zum Ausdruck gebracht. Sie lauten:

„Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist zwischen ihnen kein Unterschied als allein des Amts halber […]. Das alles kommt daher, dass wir eine Taufe, ein Evangelium und ein Glaubensbekenntnis haben; denn die Taufe, das Evangelium und das Glaubensbekenntnis, die machen allein geistlich und Christenvolk. […] Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht ist, obwohl es nicht jedem ziemt, solches Amt auszuüben“.

            Es gibt heute innerhalb und außerhalb von Theologie und Kirche eine breite Interpretation dieser Sätze, die in ihnen die Begründung einer religiösen Privatfrömmigkeit sehen. Jede und jeder entscheidet mit seinem Gewissen selbst, was er glaubt und wie er glaubt. Kein Papst schreibt es ihnen vor. Sie sind selber Papst. Was die Wirkungsgeschichte dieser berühmten Sätze betrifft, so ist es sicherlich richtig, dass sie Kreise weit über die Kirche hinaus gezogen hat. Sie haben einen Pfad angelegt, der in der Geschichte Europas zur breiten Autobahn eines selbstbewussten Menschseins und seiner freien Entscheidungen wurde.

Was aber die Kirche betrifft, so hatte Luther keinesfalls den Rückzug von Christinnen und Christen in eine religiöse Privatexistenz im Sinne. Priester, Bischof, Papst, welche nun alle sind, sind eben keine Privatleute. Sie haben ein „Amt“. Luther hat das in Aufnahme von 1. Petrus 2,9 das „Priestertum aller Gläubigen“ genannt. „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum und priesterliche Reich“, steht da.

Das meint im Verständnis Luthers: Alle Christinnen und Christen haben das Amt, für die Verkündigung des Evangeliums einzutreten. Dieses Amt aber ist nicht im Winkel religiöser Privatexistenz zu Hause, sondern in der „Gemeinschaft der Glaubenden“, wie die Kirche Jesu Christi reformatorisch verstanden wird. In dieser Gemeinschaft versammeln sich Menschen im Hören auf das Evangelium. In dieser Gemeinschaft gibt es nur „ein einiges Amt zu predigen Gottes Wort allen Christen gemein, dass ein jeglicher reden, predigen und urteilen möge und die anderen alle verpflichtet sind zuzuhören“, heißt es in der Schrift „Vom Missbrauch der Messe“ (1521, WA 8, 498, 15-18).

Ich gehe jetzt nicht darauf ein, wie Luther begründet hat, dass es inmitten der Verantwortlichkeit aller für die Bezeugung des Evangeliums das besondere Amt öffentlicher Verkündigung geben muss, in das die Gemeinde dazu befähigte und ausgebildete Menschen – also die Pfarrerinnen und Pfarrer – beruft. „Sauhirten“ und „Hundeknechte“ sollten das sicherlich nicht sein, hat Luther im „Großen Katechismus“ gesagt. Er hat damit auf seine volkstümlich-grobe Weise zum Ausdruck gebracht, dass dieses öffentliche Amt nicht alle auszuüben vermögen. Doch das entlastet alle übrigen Glieder der Gemeinde nicht davon, selber in ihrem Lebensumkreis für die gute Botschaft von Gott gerade zu stehen. Denn ihr Glaube ist im reformatorischen Verständnis redender Glaube. Doch gerade damit hapert es in unserer kirchlichen Wirklichkeit von heute gewaltig.

Denn von denen, die unserer Kirche heute angehören, verstehen sich längst nicht alle so, dass sie das „Amt“ haben, mit ihren Möglichkeiten in ihrer Lebenswelt für den Glauben an Gott einzutreten. Die meisten nehmen weder am Gemeindeleben teil noch betrachten sie es als ihre Aufgabe, dem Glauben an Gott einen Weg zu bereiten. Sie verstehen unsere Kirche als einen religiösen Dienstleister, den sie mit ihren Kirchensteuern bezahlen und den sie bei Bedarf in Anspruch nehmen. Sie reden von der „Kirche“ so, als seien sie selbst nicht die Kirche als „Versammlung der Glaubenden“. Gerade heute ist es aber dringend erforderlich, dass diejenigen, die Christinnen und Christen sind, unter den vielen dem christlichen Glauben entfremdeten Menschen fähig und willig sind, über ihren Glauben Auskunft zu geben.

Nachrichten aus Kirche und Religion schwirren durch die Medien aller Art zwar in unserer Gesellschaft reichlich herum. Aber diese Nachrichten sind für die dem Leben der Kirche fern stehenden Menschen hochgradig verwirrend. Wie sollen sie Wahres vom Falschen, Abseitiges vom Fundamentalen, Gestriges vom Heutigem unterscheiden, wenn sie niemand fragen können, der sich da auskennt? Da sie selbst nicht in die Gemeinden kommen, um sich ein Urteil zu bilden, gewinnt die persönliche Begegnung mit Menschen, die glauben, in ihrer Lebenswelt eine wichtige Bedeutung.

Das heißt: Die Familie, der Familienumkreis sowie die Arbeits- und Freizeitwelt sind von uns als Orte der Kommunikation des Glaubens zu verstehen. Das bedeutet, diejenigen die glauben, brauchen den Mut, von diesem Glauben zu reden. Damit sie das vermögen, hat Luther damals die Bibel ins Deutsche übersetzt, Lieder verfasst und Katechismen geschrieben. Denn Gottes Initiative mit uns Menschen sollte nicht in der Sackgasse von Menschen landen, die von ihr schweigen. Die Reformation hat sich denn auch entscheidend dadurch ausgebreitet, dass die reformatorische Frömmigkeit in den Familien breiten Fuß fasste.

Heute ist eine andere Zeit. Das bloße Vorhandensein von christlichen Texten und das öffentliche Reden von Repräsentanten des christlichen Glaubens in Medien und anderswo erreicht nur ganz vereinzelt Menschen außerhalb der Kirche. Die eingerastete Konfessionslosigkeit der Menschen in Wittenberg ist dafür das beste Beispiel. Trotz des immensen Aufgebotes von Veranstaltungen in „Toren der Freiheit“, von Vorträgen, großen Gottesdiensten „events“ und trotz des Touristenstroms werden es nach dem Reformationsjubiläum immer noch weniger als 10 Prozent der Bevölkerung sein, die der evangelischen Kirche angehören.

Soll die reformatorische Botschaft nicht bloß über die Menschen hinwegrauschen, dann ist es erforderlich, dass sie im alltäglichen Zusammenleben von Christinnen und Christen mit Menschen, die sie nicht kennen, Fuß fasst. Das aber wird nach menschlichem Ermessen nur geschehen, wenn Christinnen und Christen ihr Leben als eine wahrhaft menschliche, einladende Lebensweise darzustellen vermögen und mit ihrem Vermögen davon sprechen können, warum der Glaube an den Gott der Liebe eine Lebenseinstellung ist, die das Leben trägt.

Sehr viele, die meisten Christinnen und Christen trauen sich das offenkundig nicht. Es erscheint zu schwierig, dass man dann zum Beispiel auch all den Einwänden gegen den Glauben ausgesetzt ist, die heute im Namen der Wissenschaft, der historischen Kritik an der Bibel, der Religions- und Kirchenkritik usw. in den Köpfen der Menschen herum spuken. Da kann man es schon verstehen, dass viele Christinnen und Christen das „allgemeine Priestertum aller Glaubenden“ als ein viel zu schweres Gesetz für sich empfinden, dem sie nicht gerecht werden können.

Doch genau so, wie die Freiheit zum Dienst am Nächsten nach Luther kein Stemmen von schweren Gewichten ist, sondern „frei, fröhlich“ und „aus Lust“ wahrgenommen wird, so ist es auch mit der Freiheit zur eigenen Verantwortung des Glaubens an Gott. Sie legt uns keine schweren Bürden auf, sondern macht uns Lust, mit unseren kleinen und großen Gaben und unserem Vermögen an der Ausbreitung der guten Botschaft beteiligt zu sein.

Ich will nun nicht darüber jammern, dass solche Lust in der evangelischen Christenheit viel zu wenig anzutreffen ist. Wir müssen darüber reden, wie ihr von den Gemeinden der Boden bereitet werden kann. Wenn sie sich als Gemeinden der Reformation verstehen, werden sie jedenfalls darauf  ein Hauptaugenmerk richten. Denn sie wissen ja: Die drei gehören zusammen: 1) Gottesgewissheit, welche die christliche Freiheit begründet, die 2) im Eintreten für die nahen und fernen Mitmenschen und 3) in der eigenen Verantwortung des Zeugnisses von Gott gelebt wird.


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