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30.07.2011 00:00 Age: 13 yrs
Category: Vorträge

Licht und Schatten der Reformation. Das schwierige Problem der Irrlehre in unserer Kirche

Gemeindevortrag am Reformationstag 2011


1.

„Der Begriff der ‚Irrlehre’ darf der Bekennenden Kirche nicht verloren gehen“. Das hat Dietrich Bonhoeffer gefordert, als die Kirche in der Nazizeit von der religiös verbrämten Ideologie des Nationalsozialismus bedroht wurde. Heute wird Bonhoeffer dafür gelobt, dass er sich dem Eindringen des Rassenwahns, des Antisemitismus, des Führerkultes usw. in die Kirche widersetzt hat. Aber gilt auch heute, dass unserer Kirche der Begriff der „Irrlehre“ nicht verloren darf? Was ist das überhaupt? Wo kommt sie vor in unserem kirchlichen Leben? Wer stellt sie fest und welche Konsequenzen hat das?

Lassen Sie mich am Besten mit einer persönlichen Erfahrung beginnen. Als Dozent des Kirchlichen Lehramtes an der Kirchlichen Hochschule in Ost-Berlin (dem „Sprachenkonvikt“) und später als Professor an der Humboldt-Universität in Berlin bin ich von verschiedenen Landeskirchen mehrmals in eine sog. „Lehrbeanstandungskommission“ berufen worden. Denn als ein Theologe, der das Fach „Dogmatik“ vertritt, trage ich in der Ausbildung der Studierenden und in meinen Schriften, Artikeln und Vorträgen Verantwortung dafür, was in unserer Kirche gelehrt wird. Das bedeutet: Wie der Glaube an Gott im Gottesdienst, im Unterricht und allen anderen Diensten der Kirche vertreten wird. Als „Dogmatiker“ bin ich also für eine kirchliche Kommission, in welcher es um die Lehre der Kirche geht, von Berufs wegen der Richtige.

Doch beim Gedanken daran, was eine „Lehrbeanstandungskommission“ zu tun hat, ist mir als Mensch und Christ ein bisschen schummrig geworden. Denn solch eine Kommission wird aktiv, wenn ein Pfarrer, eine Pfarrerin oder auch ein Professor im Namen unserer Kirche Meinungen vertreten, die dem evangelischen Verständnis der Bibel und den Bekenntnissen unserer Kirche offenkundig widersprechen und also an dem Ast sägen, auf dem unsere Kirche sitzt. Jene Kommission hat dann die Aufgabe, die „Lehre“ der betreffenden Person in einem langwierigen Verfahren sorgfältig zu prüfen. Im härtesten Fall kann sie zu der Empfehlung kommen, jemand, der offenkundig „irr-lehrt“, aus dem kirchlichen Dienst zu entlassen.

Als eine Art Inquisitor zu wirken, der Ketzer zu entlarven und in unserer Kirche zum Schweigen zu bringen hat, aber hatte und habe ich – wie gesagt als Mensch und Christ – weder Bedürfnis noch Neigung. Den Kirchenleitungen, die mich gebeten hatten, mich in solche Kommissionen wählen zu lassen, schwante das auch wohl schon. Deshalb wurde mir regelmäßig versichert, ich könne in einem solchen Gremium ruhig und gefahrlos Mitglied sein. Es sei noch niemals einberufen worden und würde nach aller Erfahrung auch nicht einberufen werden.

Und in der Tat sind die „Lehrbeanstandungskommissionen“, in denen ich Mitglied wurde, auch nicht in Aktion getreten. Nach meiner Erinnerung ist das in den Landeskirchen der DDR überhaupt nicht Fall gewesen. In der alten Bundesrepublik gab es dagegen den viel Staub aufwirbelnden Fall des Hauptpastors Schulz aus Hamburg, der verkündet hatte, Gott sei eine „mathematische Formel“. Anfang der neunziger Jahre erregte die Entlassung der Pastorin Jutta Voß aus Baden-Württemberg aus dem kirchlichen Dienst Aufsehen. Sie hatte in ihrem Buche das „Schwarzmond-Tabu“ den Kreuzestod Jesu mit dem ins Mythische erhobenen weiblichen Menstruationszyklus interpretiert und das auch von der Kanzel verkündigt.

In beiden Fällen kam unsere Kirche in der Öffentlichkeit, wie sie durch die Presse repräsentiert wird, ausgesprochen schlecht weg. Gesinnungsterror und Unterdrückung freier Meinung waren noch die harmlosesten Vorwürfe, die erhoben wurden. Es wurde an Ketzerverbrennungen und Hexenverfolgungen erinnert, in deren Spuren sich nun auch die Evangelische Kirche von heute bewege. In jüngerer Zeit war ähnliches im Fall des Göttinger Theologie-Professors Gerd Lüdemann zu hören. Da er erklärte, selbst kein Christ mehr zu sein, und die Studierenden zur Leugnung der Auferstehung Jesu Christi veranlasste, wurde ihm von der Hannoverischen Landeskirche die Mitwirkung an kirchlichen Examina untersagt. In Verhandlungen mit der Universität wurde außerdem durchgesetzt, dass ihm ein Sonderlehrstuhl außerhalb der Theologischen Fakultät Göttingen zugewiesen wurde. „Im Würgegriff der Kirche“ und ähnlich lauteten da die Schlagzeilen für den allseits bemitleideten Professor.

Das hört sich für eine Kirche, die Versöhnung predigt, nicht gut an. Wenn unsere Kirche es irgendwie vermeiden kann, in das schiefe Licht einer üblen Tradition der Verfolgung von „Irrlehrern“ zu geraten, vermeidet sie es darum. In keinem der Reformpapiere, die zur Zeit von der Evangelischen Kirche in Deutschland und auch von unserer Landeskirche in Umlauf gesetzt werden, ist auch nur mit einem Wort davon die Rede, dass „Irrlehre“ auch ein Problem unserer Kirche sein könnte. Man kann das verstehen. Denn wir leben in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft, deren Kennzeichen die Vielfalt und Freiheit religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen ist. Niemand darf vom Staat gezwungen werden, etwas Bestimmtes zu glauben. Religion gilt demnach als „Privatsache“, in die sich keine staatliche Macht einzumischen hat.

Dementsprechend wird auch von den Kirchen erwartet, dass sie diesem Grundsatz verpflichtet sind. In ihnen können Alle in Freiheit glauben, was sie wollen. So geschieht es in unserer sogenannten „Volkskirche“ ja denn auch. Deren meiste Mitglieder picken sich in Freiheit aus der Botschaft und den Diensten unserer Kirche das heraus, was ihnen religiös-persönlich angenehm ist und scheren sich sonst nicht weiter um die „Lehre“ der Kirche. Dass unsere verfasste Kirche darauf mit „Gesinnungsterror“ reagiert, aber kann man beim besten, vielmehr beim bösesten Willen nicht behaupten. Es gehört im Gegenteil regelrecht zum erwähnten „Reformprozess“ unserer Kirche, nur vage zur Kirche gehörende Privat- oder Kulturchristen mit – wie es heißt – „niederschwelligen“ religiösen Angeboten bei der Stange zu halten. Nur wenn die „Niederschwelligkeit“ zu weit geht und z.B. der sog „Fernsehpastor“ Jürgen Fliege eine mit seinen Segenssprüchen ausgerüstete „Fliegeessenz“ für 38 Euro und einen spirituellen Wandtrockner von Scientology für 4.000 Euro vertreibt, geht das zu weit. Die rheinische Landeskirche hat deshalb gegen ihn ein Disziplinarverfahren eröffnet, das dem Tun und Verhalten eines evangelischen Pfarrers gilt. An die dahinter stehende Lehre hat man sich – so scheint es – nicht heran getraut.

Man kann dafür wiederum ein gewisses Verständnis aufbringen. Denn unsere Kirche hat die ererbte Struktur einer Flächenkirche. Eine solche Kirche definiert sich nicht – wie die sog. „Freikirchen – durch die Intensität des Glaubensbekenntnisses ihrer Glieder, sondern durch den Ort, an dem es Christinnen und Christen gibt. Die „Nordendgemeinde“, die nichts als einen Ort, an dem sie sich befindet, signalisiert, ist ein schönes Beispiel dafür. Eine Jede und ein Jeder von ihnen aber kann sich an 5 Fingern abzählen, was geschehen würde, wenn eine solche Gemeinde sich als Spiegelbild dessen präsentieren würde, was in den Häusern und Kleingärten rings um uns her so geglaubt wird. Sie wäre dann nicht mehr einem Auftrag verpflichtet, nämlich das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen und sich darum zu sammeln, sondern sie wäre ein religiöser Verein zur Pflege bunter religiöser Bedürfnisse.

Nun kann es aber sein und ist wohl auch so, dass die Verpflichtung der Kirche durch einen Auftrag geradezu verhindert, dass Menschen zu ihr kommen und sich um das Evangelium versammeln. Sie entspricht mit ihrer Orientierung an jahrtausende- und jahrhunderte alten Texten nicht dem, was Menschen unserer Zeit von der Religion erwarten. Darum gibt es in allen Gemeinden und auf allen Ebenen unserer Kirche Bemühungen, sich den Erwartungen, die Menschen heute an die Religion haben, zu öffnen und sich zeitgemäß darzustellen. Das ruft aber andererseits Menschen auf den Plan, welche unserer Kirche Anpassung an den Zeitgeist vorwerfen. Hier wird dann also nicht die Kirche aktiv, um einen einzelnen ihrer Amtsträgerinnen und Amtsträger auf ihre Lehre zu befragen. Hier wird sie von Einzelnen in ihrer Mitte selbst der Irrlehre bezichtigt.

So gibt es heute z.B. eine Initiative, die von dem ehemaligen Hamburger Bischof und Theologieprofessor Ulrich Wilckens und anderen Theologen wie Rainer Mayer und Reinhard Slenczka angeführt wird, die unserer evangelischen Kirche in scharfem Tone Irrlehre vor allem in Sachen der Sexual- und Ehemoral vorwirft („Für die Freiheit des Glaubens und die Einheit der Kirche“). Die Anerkennung und sogar Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und die Wahl Geschiedener in das Bischofsamt wird scharf verurteilt, weil sie nach Meinung der Träger jener Initiative dem biblischen Menschen- und Eheverständnis wie dem Charakter eines kirchlichen Amtes widerspricht. Da findet man die Presse, sofern sie so etwas überhaupt wahrnimmt, nun andererseits aber eher auf der Seite der Kirche, die für die Verabschiedung überholter Moralvorstellungen gelobt wird.

         Doch von diesem Lob darf sich unsere Kirche ebenso wenig abhängig machen, wie von der Schelte, die sie zu erwarten hat, wenn sie darauf besteht, dass sich die Pfarrerinnen und Pfarrer an ihr Ordinationsgelübde halten und nur das vertreten, was mit der Bibel und den Bekenntnissen unserer Kirche im Einklang steht. Es geht bei der Frage der Lehre um die Selbstverständigung unserer Kirche darüber, wofür sie eigentlich gut steht. „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ wurde in der DDR-Zeit auf kirchliche Papiere gedruckt, um damit dem Staat zu signalisieren, dass ihn das, was da geschrieben steht, nichts angeht. Versteht sich, dass die Genossinnen und Genossen gerade diese Papiere besonders aufmerksam beschnüffelt haben! Heute sind alle kirchlichen Äußerungen mit Recht um öffentliche Durchsichtigkeit bemüht. Aber die Frage der Verständigung über die Lehre der Kirche ist dennoch eine „innerkirchliche“ Angelegenheit schlechthin, in die sie sich von niemand reinreden lassen darf. Doch gehört zu dieser Verständigung auch, „Irrlehren“ auszumachen und auszuschließen?

         Martin Luther war ohne Zweifel der Meinung. Den Grund dafür können wir mit seinem Lied „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ (EG 273) sogar singend erfahren. Wir singen die Strophen 1-4.

 

2.

Der Grund dafür, dass „Irrlehre“ ein andauerndes Problem der Kirche ist, besteht also darin, dass die Menschen, die in ihr versammelt sind, ihren „eigenen Witz“, statt Gottes Wort  zu Geltung bringen. Wir können auch sagen: Dass sie Gottes Wort mit ihrem eigenen Witz anreichern, überfremden und etwas als Gottes Wort ausgeben, was es in Wahrheit nicht ist. Sie leugnen es nicht, wie die Menschen außerhalb der Kirche. Sie verdrehen es zu falschem Schein. Das ist das Problem der Irrlehre. Nicht die, die ohnehin nicht glauben, schaffen dieses Problem, sondern gerade die Glaubenden, die Glieder der Kirche. Davor aber ist von ihnen niemand gefeit, weil alle Glaubenden immer noch Sünderinnen und Sünder sind, angefochten und bedroht vom Unglauben, den sie mit in den Glauben vermischen.

„Denn das lasse dir gesagt sein“, schreibt Luther im Großen Katechismus, „ob du es gleich aufs beste könnest und aller Dinge Meister wärest, so bist du doch täglich unter des Teufels Reich, der weder Tag noch Nacht ruhet, dich zu beschleichen, dass er in deinem Herzen Unglauben und böse Gedanken [...] anzünde“ (GK I, 100, 585, 46ff; 3. Gebot).

Das aber wirkt sich – ob’s nun der sog. „Teufel“ verursacht oder einfach unsere Abwendung von Gott – auch auf die Art und Weise aus, wie vom Evangelium geredet wird. Es werden Dinge hinein gemischt, die gar nichts mit ihm zu tun haben, sondern es im Gegenteil verdunkeln. Als besonders schmähliches, historisches Beispiel für solche Verdunklung gilt mit Recht der Ablasshandel im 16. Jahrhundert, bei dem Menschen – statt auf Vergebung angewiesen zu sein und ihre Sünden zu bereuen – sich von begangenen und künftigen Sünden mit Geld frei kaufen konnten. Luthers Protest dagegen hat die Reformation ausgelöst. Aber wir dürfen seinen Einsatz für die wahre Geltung des Evangeliums von der Vergebung der Sünden nicht so verstehen, dass die rechte Lehre davon so etwas ist wie ein fester Besitz der sich bildenden reformatorischen Bewegung. Das Problem der Irrlehre ist ein bleibendes Problem aller Christinnen und Christen, weil in der Welt der Sünde der rechte Glaube und damit auch seine rechte Bezeugung immer aufs Neue von Irrtum und Irrglauben bedroht sind. Die Gemeinde Jesu Christi lebt deshalb im ständigen, aktuellen Unterscheiden zwischen der wahren Lehre und der Irrlehre.

         Es ist im reformatorischen Sinne zu unterstreichen: Die Gemeinde lebt in diesem Unterscheiden. Sie ist die erste Verantwortliche dafür, dass recht gelehrt wird. Luther hat der Ansicht der Kirche seiner Zeit widersprochen, dass über die Lehre nur der Klerus oder die Kirchenhierarchie zu entscheiden habe. Weil der christliche Glaube redender Glaube ist, muss er von allen Glaubenden verantwortet werden. Sie alle sind gewissermaßen selber der Klerus. „Denn was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht zu sein“, heißt es in Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“. Diese Anschauung vom „allgemeinen Priestertum aller Glaubenden“ schloss auch ein, „dass eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht und Macht hat, alle Lehre zu beurteilen, Lehrer zu berufen und abzusetzen“. So lautet der Titel eines kleinen Schriftchens Luthers von 1523. Er ist damit gegen die Behauptung vorgegangen, Konzilien von Kleriker könnten nicht irren.

Trotzdem scheint die Anschauung von der Lehrvollmacht der ganzen Gemeinde einerseits ziemlich illusorisch und andererseits verwirrend zu sein. Denn einerseits dürften gar nicht alle Gemeindeglieder in der Lage sein, z.B. über Fragen des trinitarischen Gottesglaubens, des Schöpfungsverständnisses, der Sakramentenlehre usw. zu urteilen. Es fehlt dazu einfach an Spezialkenntnissen. Luther versuchte dieses Problem zu entschärfen, indem er empfahl, die Gemeinde solle aus ihrer Mitte geeignete Personen wählen, die ihre „Lehre“ repräsentieren. Das hat aber nicht verhindert, dass schon zur Reformationszeit die Lehrbildung in die Hände des Berufsstandes der Theologen übergegangen ist und keineswegs in den Händen von Gemeinden lag.

Andererseits hat die Überzeugung von der Lehrvollmacht der Gemeinde auch die Tendenz befördert, dass es in der evangelischen Kirche statt eine Papstes eine ganze Fülle von kleinen Päpsten gibt, die in missverstandener evangelischer Freiheit irgendein Sonderanliegen verfolgen und damit – wenn es ganz schlimm wird – sogar zur Kirchenspaltung beitragen. Dass die reformatorische Bewegung in eine Vielzahl von Konfessionen auseinander gefallen ist, kann man nicht einfach als Zufall beurteilen.

         Dennoch bleibt Luthers Anschauung von der Lehrvollmacht der Gemeinde orientierend für unsere Kirche. Sie wehrt der Verselbständigung der Probleme der Verkündigung und damit des Lehrens in einem inneren Zirkel von Amtsträgerinnen und Amtsträgern. Sie gibt sich mit einem Verständnis der Kirche nicht zufrieden, nach dem Menschen sich wie Mitglieder in einem Verein und nicht als selbst verantwortliche Glieder am Leibe Christi verstehen. Sie sorgt dafür, dass das, was die Kirche zu sagen hat, nur mit der Stimme der Gemeinden zu sagen ist. Lehrentscheidungen der Kirche haben Synoden zu treffen, in der die Repräsentantinnen und Repräsentanten der Gemeinden mit den Amtsträgerinnen und Amtsträgern versammelt sind.

         Keiner dieser Synoden würde es nun aber heutzutage in den Sinn kommen, eine andere Kirche der Irrlehre zu bezichtigen. Nach den Jahrhunderte langen Erfahrungen der schlimmen Folgen der Kirchenspaltung herrscht eher die Tendenz, dieses Wort überhaupt zu vermeiden. Denn – wie wir eingangs schon erinnert haben – ist dieses Wort offenkundig  besudelt oder mindestens belastet. Es haftet an ihm der Ruch von Verfolgung der Menschen, die den Glauben an Jesus Christus anders verstehen als es die Kirche für richtig hält. Kriege im Namen der wahren Lehre – wie der schreckliche dreißigjährige Krieg – haben sich diesem Wort eingekerbt. Für die sog. „Neuen Atheisten“ von heute ist die Tatsache, dass die Christenheit sich gegenseitig zerfleischt hat, um „Irrlehre“ auszuschließen, ein Beleg dafür, dass Religion überhaupt abzulehnen ist.

         Luther hatte dieses blutige Gegeneinander der Christenheit ganz gewiss nicht im Sinn, als er seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg nagelte. Er wollte die eine Kirche Jesu Christi mit der Kraft des Wortes, des Lehrens, reformieren. Das Entstehen einer Sonderkirche, die noch dazu den Namen „lutherisch“ trägt, lag dabei abseits seines Interesses.

„Zum ersten bitt ich“ heißt es in einer Schrift von 1522, man wollt meines Namens geschweigen und sich nit lutherisch, sondern Christen heißen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nit mein. So bin ich auch vor niemand gekreuzigt [...] Wie käme denn ich armer, stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi sollt mit meinem heillosen Namen nennen?

Nicht ein „lutherisches“ Sonderanliegen, aber auch nicht die Fehlentwicklungen, die im Leben der Kirche des 16. Jahrhunderts grassierten, haben sein Auftreten innerlich getragen. Er wollte die Kirche lehren, sich allein an ihrem Grunde, am Evangelium von Jesus Christus, zu orientieren.

„Man muss Leben und Lehre unterscheiden“, hat er darum bei Tische redend gesagt, „Das Leben ist böse bei uns wie bei den Papisten. Darum streiten wir mit den Papisten nit des Lebens halber, sondern um die Lehre [...]. Ich schelte mich nit fromm. Aber wo es ums Wort geht, [...] da kämpfe ich. Das ist meine Berufung. Andere haben nur das Leben verfolgt. Aber die Lehre zum Streitpunkt machen, das ist der Gans an den Kragen gegriffen“.

 

Was er da zum „Streitpunkt“ bzw. zum Herzstück seines Lehrens gemacht, wollen wir uns wiederum singend mit seinem Liede „Nun freut euch lieben Christengemein“ vergegenwärtigen. Es steht EG 341. Wir singen die Strophen 1-4 und 10.

 

3.

Was wir nach Christi Wort „tun und lehren sollen“, hat nun aber nicht erst in der Reformationszeit einen Schatten bekommen. Es muss auch „Nein“ gesagt werden zu „der Menschen Satz“. Dieses Nein könnte man sich durchaus als ein klares und entschiedenes Wort gegenüber einer Lehre vorstellen, die offenkundig Christi Worten und dem Geist des Evangeliums widerspricht. Doch dabei ist es nicht geblieben. Die Reformation hat sich vielmehr einer langen Tradition angeschlossen, die sogar bis ins Neue Testament reicht. Danach war die Ablehnung einer Irrlehre mit der Verdammung von Menschen verbunden, die sie vertreten.

 „Wenn auch wir oder ein Engel vom Himmel euch das Evangelium anders predigen würde, als wir euch gepredigt haben, der sei verflucht“, sagt Paulus in Galater 1, 8. Ebenso I Kor 16, 22: „Wenn jemand den Herrn nicht lieb hat, der sei verflucht“. Anathema heißt dieser Fluch auf griechisch, damnatio auf lateinisch.

         Das bedeutet seinem ursprünglichen Sinne nach: Wer „anders predigt“, sei Gott und seinem Gericht anheimgegeben. Menschen können nicht mehr dafür einstehen, dass er unter Gottes Schutz steht. Es kann aber nicht bedeuten: Sie verurteilen ihn selber als einen, der in Ewigkeit vom Heil ausgeschlossen ist. Das können Menschen nicht. Sie können höchstens auf Gottes Gericht hinweisen. In der frühen, alten Kirche geschah das so, dass jemand, der „ein anderes Evangelium“ lehrte, entweder vom Abendmahl oder überhaupt aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen wurde.

Ersteres wurde im Mittelalter der „kleine Bann“ und letzteres der „große Bann“ genannt. Der große Bann war in dieser Zeit unmittelbar mit der sog. „Reichsacht“ verbunden. Der, über den die „Reichsacht“ verhängt wurde, war rechtlos und vogelfrei. Luther selbst wurde Opfer dieses Verfahrens. Er ist 1521 auf dem Reichtag zu Worms mit der Reichsacht belegt worden und entkam deren Konsequenzen nur, indem Friedrich der Weise ihn auf der Wartburg in Sicherheit bringen ließ. Luther hat die Verbindung von Kirchenbann und Reichsacht in den Schmalkhaldischen Artikeln denn auch eindeutig abgelehnt. Das sei eine „rein weltliche Strafe“, welchen „einen Kirchendiener“ nichts angeht. Den „kleinen Bann“ aber hat er bejaht. Mit ihm – also dem Ausschluss vom Abendmahl – sollen „offenbarliche, halsstarrige Sünder“ solange belegt werden, bis sie sich bessern. An Vertreter eine „Irrlehre“ war dabei aber wohl nicht gedacht.

         Dennoch hat die Reformation an der Praxis festgehalten, mit der Irrlehre die Personen zu verurteilen, welche diese Lehre vertreten. In der Augsburgischen Konfession von 1530, dem Evangelischen Grundbekenntnis, schließt sich Melanchthon – wahrscheinlich aus taktischen Gründen – an den Brauch an, Menschen zu verdammen, die eine bestimmte, traditionelle  Irrlehren vertreten: Die Arianer, die Manichäer, die Valentinianer, die Donatisten usw. usw. werden verdammt. Aber auch zeitgenössische Irrlehrer trifft es. Die Wiedertäufer werden mit dem Anathema belegt. Die Version des Augsburgischen Bekenntnisses, die in unserem Gesangbuch unter der Nummer 808 abgedruckt ist, kaschiert das übrigens. Sie erweckt den Eindruck, hier würde nur Lehren verurteilt.

         Ich kann jetzt hier nicht ausbreiten, welche Folgen im Einzelnen die Personalisierung von Irrlehren in der Reformationszeit und später hatte. Ihre Höhepunkte erreichte sie in der Verurteilung des Papstes und der ganzen römisch-katholischen Kirche als „Antichrist“ (AS), in der Aufspaltung der Reformation in „Lutheraner“ und „Calvinisten“ und in der Verdammung der reformatorischen Kirchen und ihrer Lehren durch die römisch-katholische Kirche im Tridentinischen Konzil. Nicht nur einzelne Christen wurden verdammt, ganze Kirchen verdammten sich gegenseitig. Sie ließen sich darüber hinaus in politische Machtinteressen hinein ziehen, denen die Verdammungsurteile die Begründung lieferten, gewaltsam gegen die Gebiete vorzugehen, in denen Menschen mit einer anderen Konfession lebten. Das Licht der Reformation war erleuchtend und befreiend. Wir alle leben von seinen Strahlen. Aber seine Schatten, die es alle mit der Verdammung von Menschen zu tun haben, lasten bis heute auch auf uns.

         Darum ist es gut, dass sich – soweit ich sehe – von ein paar Splittergruppen abgesehen alle Kirchen der Welt, die aus der Reformation hervorgegangen sind, von der verdammenden Personalisierung von Irrlehren verabschiedet haben. Was früher als Irrlehre galt, wird auf bloße Meinungsverschiedenheiten zurück gestuft, welche das gemeinsame Bekenntnis zu Jesus Christus nicht hindern. Vorbildlich dafür ist im Bereich der reformatorischen Kirchen Europas die „Leuenberger Konkordie“ von 1973, die auch auszugsweise in unserem Gesangbuch abgedruckt ist (EG 811). Ihr sind unterdessen weit über hundert reformatorische Kirchen beigetreten, die sich Kirchengemeinschaft erklären, auch wenn sie das Evangelium unterschiedlich akzentuiert vertreten. „Versöhnte Verschiedenheit“ heißt der Geist, der diese Kirchengemeinschaft trägt. Aber auch zwischen der römisch-katholischen und der lutherischen Kirche besteht Einigkeit, dass die gegenseitigen Verdammungen des 16. Jahrhunderts zum größten Teil auf Missverständnissen beruhen und heute nicht mehr zutreffen.

         Zur Einheit der römisch-katholischen, der orthodoxen und der reformatorischen Kirchen im Bekenntnis des einen Glaubens an Jesus Christus reicht das allerdings nicht. Der Glaube sei eben doch nicht der Gleiche, hat Benedikt XVI. im Augustinerkloster in Erfurt reichlich diplomatisch verklausuliert gesagt. Ein paar Tage davor hatte der neue Berliner Erzbischof in einem Interview im Tagesspiegel verlauten lassen: „Alleine die katholischen Priester und Bischöfe repräsentieren Jesus Christus“. So etwas schmerzt, wie denn die Liste von Schmerzlichkeiten, welche das Verhältnis der beiden Kirchen belasten, überhaupt noch ziemlich lang ist.

Das aber ist kein Anlass, die alten Verwerfungen zu aktualisieren. Im Zugehen auf das 500jährige Reformationsjubiläum im Jahre 2017 gibt sich die Evangelische Kirche mit Recht alle Mühe, dieses Fest so zu gestalten, dass sich die Glieder der römisch-katholischen Kirche trotz aller Unterschiede der Lehre des gemeinsamen Glauben an Jesus Christus mitfreuen können. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland hat beim Papstbesuch im Kapitelsaal des Erfurter Augustiner-Klosters gesagt: „Der Geist triumphalistischer Großspurigkeit wird das Reformationsjubiläum nicht prägen. Vielmehr laden wir alle (!) Christenmenschen ein, sich gemeinsam mit uns darüber zu freuen, dass Gott der ganzen Kirche eine starke Theologie der Gewissheit in Zeiten höchster Verunsicherung geschenkt und für die ganze Christenheit in den letzten fünfhundert Jahren lebendig gehalten hat“. Er hat deshalb „den lieben Bruder in Christus“ Benedikt eingeladen, „den 31. Oktober 2017 als ein Fest des Christusbekenntnisses zu verstehen und mit den Kirchen der Reformation zu feiern, so dass wir alle in ökumenischer Verbundenheit Christus bezeugen“.

         Denn die Herausforderung, dieses Zeugnis in einer Zeit des religiösen Pluralismus auf der einen Seite und der Gottesgleichgültigkeit der Menschen auf der anderen Seite abzulegen, besteht für alle Christinnen und Christen in gleicher Weise. Da sitzen sie alle in einem Boot und sind von den gleichen Fragen und Problemen bewegt, die in unserer Gesellschaft an den christlichen Glauben gestellt werden. Das Gespräch darüber und manchmal auch der Streit darüber, wie ein zeitgemäßes Christentum auszusehen hat und wo die Grenzen der Anpassung an den Zeitgeist liegen, geht quer durch die Konfessionen. In meinem Berufsfeld, der wissenschaftlichen Theologie, ist das besonders gut sichtbar. In solchen fundamentalen Fragen wie dem Verständnis Gottes, der Schöpfung, des Menschen und natürlich Jesu Christi sind evangelische und katholische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute so eng mit gemeinsamen Nachdenken beieinander, dass Außenstehende wahrscheinlich gar nicht merken würden, wer hier auf welcher konfessionellen Seite steht.

Vergleichbares dürfte in unserer Zeit wohl für alle Christinnen und Christen gelten, wenn sie gefragt werden, was Gott für sie bedeutet, warum sie die Welt als Schöpfung verstehen, welches Menschenbild sie haben oder warum man auf Jesus Christus vertrauen kann. Diese Erfahrung gemeinsamer Verantwortung des christlichen Glaubens ist darum sicher geeignet, die durchaus verblassenden Schatten gegenseitiger Abgrenzung, die aber immer noch da sind, zurück zu drängen. Wenn wir nun zum Abschluss dieses Abends die ersten beiden Strophen des Liedes des Reformationsliedes „Ein feste Burg ist unser Gott“ singen, dann werden wir dabei sicher an den Gott aller Christenmenschen denken (362, 1-2).


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