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Christlicher Glaube und säkulare Gesellschaft. Muss der christliche Glaube sich wandeln, um zukunftsfähig zu sein?
Vortrag in der Matthäus-Gemeinde Berlin-Steglitz am 22.09.2016
1. Säkularismus als Herausforderung der Kirche
Die Frage, warum nicht nur die evangelische Kirche, sondern auch unserer katholische Schwesterkirche nicht bloß in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa beständig schrumpft, kann in einer Zeit, in der wir auf das 500jährige Reformationsjubiläum im nächsten Jahre zugehen, schwerlich unter den Tisch gekehrt werden. Denn was ist das für eine Wahrheit, die hier gefeiert wird, welche offenkundig immer weniger Menschen ergreift und interessiert? Es wird beim Jubiläum der Reformation Großveranstaltungen aller Art geben, allem voran den Berlin-Wittenberger Kirchentag mit dem Abschlussgottesdienst auf den Wittenberger Elbwiesen. Das Fernsehen wird ganz Deutschland die evangelische Christenheit im Hunderttausenderpack vor Augen führen. Dass in Wittenberg selbst nur ein verschwindender Teil der Bevölkerung der Evangelischen Kirche angehört, wird darüber für einen Moment lang vergessen sein. Aber wenn die Hunderttausende abgezogen sind, ist die Realität wieder da:
Leere, zerfallene Kirchen im Umland von Wittenberg wie an so vielen Orten im Osten Deutschland, dem „Mutterland der Reformation“. Mit Mühe alle 4 Wochen – wenn überhaupt – ein Gottesdienst mit ein paar Menschen. Kaum Konfirmanden. Eine Pfarrerin oder ein Pfarrer für ein Gebiet, das einmal einen ganzen Kirchenkreis ausmachte. Natürlich ist das im Osten Deutschlands eine dauerhafte Hinterlassenschaft der repressiv-kirchenfeindlichen politischen Praxis des „real-existierenden Sozialismus“. Er hat die Menschen mit Druck veranlasst hat, ihre kirchliche Bindung fahren zu lassen. Das Leben ohne Gott, Glaube und Kirche ist infolgedessen zur Gewohnheit geworden. Und diese Gewohnheit ist ansteckend. Die Evangelische Kirche im Osten Deutschlands schrumpft weiter.
Die Erwartung in den Zeiten der deutschen Vereinigung, dass sich die Menschen wieder für den Glauben an Gott öffnen würden, wenn die real-sozialistische Repression weggefallen ist, hat getrogen. Denn auch die Lebensweise der Menschen aus westlichen Landen, denen man jetzt begegnen konnte, ist kein Anstoß geworden, die eigene Glaubenslosigkeit in Frage zu stellen. Im Gegenteil! Die westlichen Verwandten feiern munter die Jugendweihe mit, welche trotz ihrer ideologischen Entrümpelung und Verflachung noch immer demonstriert, dass Menschen nichts mit der „Religion“ zu haben möchten. Solche Verwandten sind gewiss kein Vortrupp, der in das hier vorherrschende gesellschaftliche Klima der Gottlosigkeit eine Bresche schlagen kann. Sie tragen vielmehr ihre eigene Glaubensferne in dieses Milieu hinein und bestätigen es.
Denn was sich im Osten in der geballten Gestalt von ca 75 % der sogenannten „konfessionslosen“ Bevölkerung zeigt, das breitet sich weiter westlich bei vielen Einzelnen Schritt für Schritt aus. „Säkularisierung“ heißt das, „Verweltlichung“ der Lebensführung, die keine Orientierung am „Transzendenten“, an dem, was die Perspektiven des Irdischen und Weltlichen überschreitet, mehr kennt. Es wird freilich zu Recht darauf hingewiesen, dass diese „Säkularisierung“ nicht der einzige Grund ist, warum die Mitgliederzahlen in beiden großen Kirchen in Deutschland und in ganz Westeuropa nach unten zeigen. Die demographische Tendenz der Überalterung der Bevölkerung bewirkt, dass die Glieder der Kirche wegsterben, ohne dass eine nachwachsende Generation diese Lücke füllt.
Paradoxerweise ist es sogar ein neu erwachtes Interesse an der „Religion“, das Menschen der christlichen Botschaft, so wie die Kirchen sie vertreten, entfremdet. Sie finden hier nicht die religiösen Bedürfnisse befriedigt, die ihrem eigenen Wohlbefinden dienlich sind. Sie treten aus der Kirche aus, weil sie auf eigene Weise „religiös“ sein möchten. Das entspricht dem Trend zur Subjektivierung und Individualisierung von weltanschaulichen und so auch religiösen Überzeugungen in einer weltanschaulich und religiös pluralistischen Gesellschaft. Menschen, die „Religion“ als „Privatsache“ betrachten, suchen sich aus dem Repertoire der westlichen und östlichen Religionen, aus Esoterik, Mystik, meditativen Praktiken und sogar Spiritismus das heraus, was ihrem Dasein eine gewisse Tiefe verleiht. „Bastelreligiosität“ hat der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch „Der eigene Gott“ (Leipzig 2008) das genannt. Aus der Perspektive solcher Religiosität geraten beide großen Kirchen unter das Verdikt, Vertreterinnen von abstrakten und verstaubten „Dogmen“ zu sein, welche einen Menschen unserer Zeit nichts angehen.
Es war deshalb einigermaßen gewagt, dass das Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland von 2006 mit dem Titel „Kirche der Freiheit“, in dessen Fahrwasser auch entsprechende Papiere in unserer Landeskirche entstanden sind, auf die „Wiederkehr der Religion“ einige Hoffnung für das „Wachsen der Kirche gegen den Trend“ gesetzt hat. Dem Säkularismus der massenhaften Religionsabstinenz im Osten Deutschland und dem Atheismus, dessen giftig-kirchenfeindliche Fanfarenstöße zum Beispiel bei den „Neuen Atheisten“ eher aus westlicher Richtung erschallen, wurde und wird in alle diesen Impuls- und Perspektivpapieren deshalb nur eine geringe Aufmerksamkeit geschenkt. In den „Orientierungspunkten für den Reformprozess“ unserer Landeskirche von 2012 unter dem Titel „Welche Kirche morgen“? macht man sich zum Beispiel die heute in der Soziologie vertretene Ansicht zu Eigen, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die Modernisierungsprozesse in der Gesellschaft mitnichten ein „Verschwinden der Religion“ nach sich ziehen. „Religion ist wieder ein gesellschaftliches Thema“, heißt es da, obwohl in diesem Papier eine Seite weiter im Blick auf den Osten konstatiert wird: „Von der Rückkehr der Religion […] ist hier wenig zu spüren“ (22f.). In Wahrheit nagt jedoch nicht nur der hier massiv spürbare Säkularismus, sondern auch die weiter westlich in Erscheinung tretende „Bastelreligiosität“ an den Gewissheiten des christlichen Glaubens. Sie haben für viele Menschen nicht mehr die Geisteskraft, Grund in ihr Leben zu bringen und deshalb treten sie aus der Kirche aus.
Was kann unsere Kirche angesichts dessen tun? – das ist die Frage, der wir uns heute stellen wollen. Wir wollen das jedoch nicht in der Weise tun, in der das die erwähnten Impulspapiere tun. Ihnen geht es summa summarum darum, wie unsere Kirche ihre ererbte Gestalt einer über das ganze Land verbreiteten Flächenkirche erhalten und auch in ausgedünnter Form mit Leben erfüllen kann. Diese Frage, die viele organisatorische Probleme aufwirft, ist für eine verantwortliche Kirchenleitung berechtigt und unausweichlich. Außerdem liegt mit Recht der Ton darauf, wie sich unsere Kirche nicht nur für die kirchenfernen Menschen, sondern auch für die nur locker mit dem christlichen Glauben verbundenen Glieder der immer noch sogenannten „Volkskirche“ einladend und offen für ihre Fragen und Lebensprobleme darstellen kann – auch wenn das Wort „Kundenorientierung“ hier fehl am Platze ist. Die Kirche ist kein Kaufhaus.
Die Dominanz der „Wie-Frage“ bewirkt aber (wenn ich das recht sehe), dass das Eingehen auf die „Was-Frage“ deutlich in den Hintergrund tritt. Außer mit plakativen Anzeigen von Grundthemen des christlichen Glaubens wird kaum entfaltet, was denn auf dem Hintergrund der Infragestellung dieses Glaubens durch den Säkularismus und die „Bastelreligiosität“ Glauben, der dieser Infragestellung standhält, bedeutet. Die Frage, ob der christliche Glaube sich selbst wandeln muss, wird darum gar nicht gestellt, obgleich einige sich schon faktisch vollziehende Wandlungen durch manche Ritzen scheinen.
Im Unterschied dazu haben wir es in der evangelischen Theologie, die sich der Frage stellen muss, was Glauben im Sinne des Christentums heute sein kann, mit einigen kräftigen Forderungen und Vorschlägen zu seiner Wandlung, zu seiner „Transformation“ als Glaube in unserer Zeit zu tun. Ich kann hier gar nicht alles diskutieren, was da auf dem Plan ist. Deshalb beschränke ich mich ohne Anspruch auf Vollständigkeit auf drei mehr oder weniger repräsentative Vorschläge solcher „Wandlung“: Sie beziehen sich 1) auf das Verständnis von Wahrheit, 2) auf das Verständnis von Schöpfung und 3) auf das Verständnis Gottes.
2. Glaube ohne Wahrheit?
Ein Grundfeiler des Säkularismus ist die Überzeugung, dass die wissenschaftliche Erkenntnis unserer Welt und unseres Lebens, aber auch die Erfahrung den Glauben an Gott ausschließen. „Übernatürliche“ Ursachen für das Werden des Kosmos, der Erde und des menschlichen Lebens, deren Annahme noch zur Reformationszeit selbstverständlich war, scheiden in dieser Optik aus. Göttliche Eingriffe in das menschliche Leben wie Wunder oder das Wirken von Engeln werden ebenso verneint wie das Treiben von Dämonen und des Teufels, das z.B. für Martin Luther reale Tatsache war. Der christliche Glaube verlor darum seit der Aufklärungszeit im 18. Jahrhundert seinen status als Theorie der Welterklärung, aber auch des menschlichen Daseins. Die Welt und die Menschheit sind nicht so entstanden, wie es 1. Mose 1 und 2 beschreiben. Und vieles im Zeugnis der Bibel muss als Mythos verstanden werden, der Vorgänge in der Geschichte und im menschlichen Leben mit phantastischen Erzählungen, die sich nicht beweisen lassen, erklärt.
Was aber nicht verloren ging, war die schwer zu leugnende Tatsache, dass Menschen dennoch nicht aufgehört haben und aufhören, nach einem Grund und Sinn ihres Daseins zu fragen, der alle Kenntnis unserer irdischen Wirklichkeit, die uns die Wissenschaft und die Erfahrung vermitteln, überschreitet. Der Genialste unter den Aufklärern des 18. Jahrhunderts, Immanuel Kant, hat mit großem Scharfblick erkannt, dass uns die Wissenschaft, die aufweist, was ich wissen kann, die Frage nicht beantwortet, wie wir handeln sollen und was wir hoffen können. Für diese Frage bleibt die „Religion“ zuständig, die sich nicht an die Grenzen gebunden weiß, welche die wissenschaftliche Welterkenntnis ihr setzt.
Ein anderer Genialer – diesmal aus den Gefilden der evangelischen Theologie – hat daraus Anfang des 19. Jahrhunderts die Konsequenz gezogen, dass sich das, was den christlichen Glauben ausmacht, überhaupt nur als einen im Bewusstsein von Menschen abspielenden Vorgang verstehen lässt. Das war der Berliner Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Menschen können sich nach seiner Ansicht nicht selbst verstehen, ohne sich „schlechthinig“ von einem jenseitigen Grund ihres Daseins abhängig zu wissen, der ihr Dasein gründet. Im Falle des christlichen Glaubens ist dieses Selbstverständnis – Schleiermacher nennt es das „christlich fromme Selbstbewusstsein“ – von der „männlichen Vollkräftigkeit“ des Gottesbewusstseins Jesu geprägt. Von „übernatürlichen Tatsachen“, z.B. wie Gott an sich ist oder wie er allem Bewusstsein von ihm vorausgehend in der Welt handelt wirkt, können wir dagegen gar nichts sagen.
Die Auseinandersetzung mit dieser „Transformation“ des christlichen Glaubens an Gott und an Christus in einen Ausdruck des menschlichen Selbstverständnisses ist nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht. Denn von Gott und von Christus können wir ja tatsächlich nur im Glauben Aussagen machen. Gründete sich die Gewissheit Gottes auf ein Wissen, dann brauchten wir nicht zu glauben. Das heißt aber, nur in der Beziehung von Menschen, die an Gott glauben, ist Gott für uns wirklich und geht Christus uns etwas an.
Während die christliche Theologie und auch die Verkündigung der Kirche aber immer davon ausgingen, dass uns Gott im Glauben unserem Bewusstsein voran gehend begegnet und uns mit seinem Geist inspiriert, begegnen sich jetzt nur Menschen mit ihrem religiösen Selbstverständnis. Nach der Darstellung meines Kollegen und Nachfolgers Notger Slenczka hat das in der gegenwärtigen evangelischen Theologie einen Trend zur „Entpositivierung“ oder „Entsubstanzialisierung“ von Glaubensaussagen zur Folge. D.h. es geht nicht mehr um die Darstellung und das Verstehen von Gottes Wirklichkeit, von Schöpfung, Menschwerdung, Versöhnung, ewigem Leben usw., sondern um die „Selbstthematisierung des Subjekts“ (Flucht aus den dogmatischen Loci, Zeitzeichen 8/ 2013, 48 45-48). Damit werden alle Anschauungen „verabschiedet“, die Gott, Christus und den Heiligen Geist als von Menschen unabhängigen Ursprung des Glaubens verstehen. An die Stelle dessen tritt die Selbstauslegung des religiösen Subjekts, das, indem es sich seiner bewusst wird, mit Hilfe von Bibel und christlicher Tradition ein Bewusstsein von Gott „produziert“.
Wer aufmerksam landauf-landab christliche Predigten hört, Morgenandachten im Radio und das „Wort zum Sonntag“ im Fernsehen einschaltet oder die von mir mit herausgegebene Kirchenzeitung liest, kann wahrnehmen, wie dieser Trend zur Subjektivierung der christlichen Botschaft sich auch in der Praxis ausbreitet. „Ich“ wird weithin das erste Wort. Es wird der christliche Glaube mit dem wichtig gemacht, was denen wichtig ist, die davon reden. Was ich glaube, wird zur Basis dessen, was auch die anderen glauben sollen.
Dieser Trend hat natürlich auch Anteil an der schon angesprochenen Individualisierung und Privatisierung von „Religion“ in der pluralistischen Gesellschaft. Diese Erscheinung macht auch vor Kirchentüren nicht halt. Er hat zudem auch sein Recht, weil jemand schwerlich glaubhaft vom Glauben reden kann, bei dem man spürt, dass er selbst nicht glaubt, was er sagt. Hinzu kommt: Die persönliche Begegnung von Christinnen und Christen mit ihren glaubensfernen Mitmenschen in Beruf und Freizeit verlangt durchaus danach, darzustellen, was das Glaube für ihr Leben ganz persönlich bedeutet.
Problematisch wird es jedoch, wenn die berechtigte Erwartung von Authentizität, d.h. persönlicher Glaubwürdigkeit beim Vertreten der christlichen Botschaft, in einen Gegensatz zur Wahrheit dieser Botschaft getrieben wird. Dazu veranlasst heute der sogenannte „Absolutheitsanspruch des Christentums“, sofern er so verstanden wird, dass allein der christliche Glaube im Unterschied zu anderen Religionen die wahre Religion ist. Insbesondere die schlimme Gewaltgeschichte zwischen den Religionen, aber auch die Überzeugung in der pluralistischen Gesellschaft, dass es keine absolute Wahrheit gebe, führt dann zu der Devise: „Authentizität, nicht Wahrheit“. Diese Devise hat Klaus Peter Jörns in seinem Buch „Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 22004, 181, ausgegeben. Er versteht die christliche Religion wie alle anderen auch nur als eine relative „Wahrnehmungsgestalt“ Gottes. Folglich wird der „Anspruch der Christen, die Bibel sei einzige Offenbarungsquelle, ja, das alleinige Wort Gottes“, bestritten. Vom Verständnis der Bibel als Kanon, also Maßstab des Glaubens, soll „Abschied“ genommen werden (a.a.O., 179).
Dass mit einer derartigen Devise auf ein Problem eingegangen wird, dem wir uns stellen müssen, ist unbestreitbar. Die Vielfalt der Religionen der Welt, die uns jetzt gerade wieder in den Flüchtlingsströmen hautnah begegnet, bestätigt Säkularisten darin, dass Religionen in ihrer Widersprüchlichkeit überhaupt keine Wahrheit repräsentieren und religiös Gesinnte darin, dass alles relativ ist, was hier geglaubt wird. Dennoch ist es nicht gut, angesichts dessen „Authentizität“ und „Wahrheit“ als Gegensatz zu verstehen. „Authentisch“ ist auch ein Mensch, der mit größter persönlicher Selbstgewissheit für den größtmöglichen Unfug eintritt – oder gar für menschenfeindliche Parolen. Authentisch sind auch die christlichen, muslimischen und hinduistischen Fundamentalisten. „Authentizität“ ohne Wahrheit, nämlich Wahrheit im eigentlichen Sinne, ist darum bodenlos.
Denn Wahrheit ist gerade im biblischen Sinne nicht irgendeine absolute, von Menschen ersonnene Doktrin. Wahrheit ist vielmehr das unverfügbare Ereignis der Menschenfreundlichkeit Gottes, das Menschen berührt, so dass sie ihm vertrauen, d.h. glauben. Man kann aber nicht auf etwas vertrauen – mit Luther geredet: sein „Herz auf etwas setzen“ – von dem zugleich gilt, es könnte auch falsch und irrig und nicht verlässlich sein. Das gute Anliegen, ein friedliches Zusammenlebens der Religionen zu befördern, muss darum anders in Angriff genommen werden. Jörns selbst bietet dafür jedenfalls insofern einen Ansatz, als er die Liebe Gottes, die der Glaube im biblischen Gotteszeugnis wahrnimmt, als „unbegrenzt“ und „unbedingt“ charakterisiert (vgl. a.a.O., 362) und damit zugibt, dass sie unsere „authentische“ Wahrnehmung überschreitet. Überhaupt ist es das Verständnis Gottes als Liebe, auf das sich die meisten theologischen Überlegungen zu einer zukunftsträchtigen Wandlung des christlichen Glaubens konzentrieren.
3 . Probleme mit dem Schöpfer
Wir setzen noch einmal mit der Überzeugung des Säkularismus ein, dass die wissenschaftliche Erkenntnis unserer Welt und unseres Lebens, aber auch die Erfahrung den Glauben an Gott ausschließen. An erster Stelle betrifft das den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer. Die wissenschaftliche Erforschung des Werdens des Universums und der Evolution des menschlichen Lebens zeigt uns dieses Werden als eine Kette völlig unvorhersehbarer „Zufälle“, die für die wissenschaftliche Erkenntnis ausschließen, diesen ganzen Prozess als ein Werk planender göttlicher Vernunft zu verstehen. Das ist das Hauptargument der sogenannten „Neuen Atheisten“ wie Richard Dawkins. Er bringt in seinem Buch „Der Gotteswahn“ (Berlin 72007) als entscheidendes Argument gegen den Glauben an den Schöpfer vor, dass sich Gott als Schöpfer nicht beweisen lässt. Das Werden des Universums und des Leben kann in jeder Hinsicht ohne die „Gotteshypothese“ (a.a.O., 72) erklärt werden.
Da hat er, werden wir als Christinnen und Christen sagen, auch ganz Recht. Gott ist keine „Hypothese“ und keine Wirklichkeit, die wir mit wissenschaftlichen Methoden zu errechnen vermöchten. Ein dermaßen „bewiesener“ und gar noch in mathematischen Formeln verorteter Gott wäre überhaupt nicht Gott. Er wäre nur ein Teil oder eine Dimension der Welt, also theologisch gesprochen: ein Götze, ein Produkt des Aberglaubens. Dass Gott „Schöpfer des Himmels und der Erde“ ist, ist ein Glaubenssatz, welcher sich im biblischen Zeugnis der Begegnung mit Gott in der Geschichte und der Existenz von Menschen verdankt. So wie er uns hier begegnet, muss er so verstanden werden, dass sich ihm alle Wirklichkeit verdankt. Ob der emeritierte Papst und eine Reihe von Religionsphilosophen vor allem im englisch-sprachigen Raum darum gut tun, Gott als Schöpfer und „Gestalter“ des Prozesses des Werdens von Kosmos und Leben „beweisen“ zu wollen oder gar mit dem Computer zu errechnen, darf mit einem dicken Fragezeichen versehen werden.
Nach Eugen Drewerman, einem katholischen Theologen und Psychotherapeuten, der 1992 vom Priesteramt suspendiert wurde und 2005 aus der katholischen Kirche austrat, ignoriert diese Art, Gott als Schöpfer von allem beweisen zu wollen, etwas Entscheidendes. Das ist die Tatsache, dass man eine Welt, die strukturell voller Leiden, voller Naturkatastrophen, voller Massenausrottungen von Lebewesen, „in ihrer ungeplanten Zufälligkeit, in der Fülle ihrer absurden Zerstörungen, in der infamen Bedenkenlosigkeit bei der Wahl und Erzeugung ihrer Mittel“ nicht als Werk „eines unendlich sorgsam überlegenden und unendlich liebevoll überlegenen Gottes“ verstehen kann“ (...und es geschah also. Die moderne Biologie und die Frage nach Gott, Glauben und Freiheit, Band 3, Religion und Naturwissenschaft, 2. Teil: Biologie und Theologie, Zürich/Düsseldorf 1999, 812f.).
„Sollte wirklich ein Gott [...] so verrückt gewesen sein“, fragt Drewermann z.B. angesichts der Vernichtung der wunderbaren Dinosaurier durch einen Meteoriteneinschlag, „zu tun, was wirklich nur ein ‚Wahnsinniger’ [...] in Kauf zu nehmen bereit sein kann? [...] Kein weiser, gütiger und allmächtiger Gott hätte jemals einen solchen Meteoriteneinschlag wie den am Ende der Oberkreide planen, zulassen und herbeiführen dürfen“ a.a.O, 210).
Diese Fragen setzen sich fort im Blick auf die Geschichte der Evolution des Lebens, in welche „der furchtbare Zwang des unaufhörlichen Tötens und Getötetwerdens, […] des unaufhörlichen Wettrüstens zwischen Beutegreifern und Beutetieren“, an dem auch Menschen teilhaben, herrscht. (Wendepunkte oder Was besagt eigentlich das Christentum? Ostfildern 2014, 55). Die Schlussfolgerung ist: „Ein Gott, der ein solches ungeheures Maß an Leid einplant“, kann als Gott von „Weisheit und Güte“ nicht der Schöpfer der Welt sein (a.a.O., 59).
Diese Ansicht ist an sich alt, ziemlich alt sogar. Marcion aus Sinope in Kleinasien vertrat sie in der 1. Hälfte des 2. Jahrhunderts mit großem Erfolg. Mit dieser Welt voller Grenzen und Zufälligkeiten, die dem menschlichen Dasein Schaden und Leid zufügen, mit dieser ekligen Leibhaftigkeit von Menschen, die auf Fressen, Scheißen und Sex angewiesen ist, mit all der Gemeinheit und Ungerechtigkeit, die sich auf der Erde ausbreiten kann, hat der gute Gott, der in Jesus Christus auf dem Plan ist, nichts zu tun. Der Gott, der eine solche Welt geschaffen hat, ist vielmehr ein begrenzter Demiurg (ein miserabler Weltenhandwerker), der eine Welt des Übels und der Grausamkeit produziert hat, aus der uns der gute Gott – Marcion sagt: „der fremde Gott“ – gerade erlösen will. Er sendet darum in seiner Güte Jesus in diese Welt, um uns aus den Klauen dieses Demiurgen zu befreien. Christus kommt aus einer wahrhaft göttlichen Lichtsphäre in diese Welt hinab, um die Seelen der Menschen zu erleuchten und in sein Reich zu holen.
Drewermann beruft sich ausdrücklich auf Marcion. Er hat aber aus dem evangelischen Raum auch den Berliner Kirchenhistoriker Adolf von Harnack an seiner Seite, indem er den Vater-Gott Jesu der von einem blinden Geschick hervorgebrachten Welt entgegengesetzt. Dieser gute Gott begegnet uns im Auftreten und der Verkündigung Jesu, um „der Zufälligkeit und Sinnlosigkeit der individuellen Existenz Grund und Halt zu verleihen“ (Es geschah, 819). Er inspiriert uns dazu, nicht an einen Kosmos-Gott, sondern „an eine subjekthafte (personhafte), individuelle (liebende), freie (vergebende) und mittragende (verstehende) Gottheit im Hintergrund der Welt und gegen alle Welt zu glauben“ (a.a.O., 829). Er hilft uns, in dieser Wüste von Grausamkeit und dunklem Geschick unsere Angst zu bewältigen und unserem Leben einen Sinn zu geben, den es im Zusammenhang des Kosmos und der Lebensevolution gerade nicht hat. Der Gott Jesu schafft vielmehr ein „Vertrauen in Gott, das groß genug ist, den Enttäuschungen der Welt standzuhalten“ (Wendepunkte, 88).
Das Problem, welches das christliche Bekenntnis zu Gott dem allmächtigen Schöpfer mit dieser Anschauung hat, ist klar. Die Wirklichkeit, in der wir leben, verdankt sich nicht Gott. Sie ist unabhängig von ihm da. Die Alte Kirche hat das verworfen, nicht zuletzt darum, weil Marcion das alttestamentliche Zeugnis von Gott dem Schöpfer aus dem Neuen Testament tilgen wollte. Drewermann will das im Unterschied auch zu Adolf von Harnack nicht. Im Gegenteil, die in Jesus erwiesene Liebe Gottes ermöglicht es nach seiner Ansicht auch, in das Schöpfungslob des Alten Testaments einzustimmen und überhaupt die Lichtseiten der irdischen Wirklichkeit als Gleichnis der Liebe Gottes so zu preisen, wie für Jesus die Spatzen und die Lilien auf dem Felde Gleichnis der Güte seines Vaters waren. „Alles, was schön ist“, sagt Drewermann darum, „berührt uns im Gefühl der Freude und der Dankbarkeit, es macht uns scheu, behutsam, andächtig, verträumt, es lehrt uns zu lieben auf eine ehrfürchtige absichtslose Weise; es setzt den Wunsch frei, zu beschützen, zu erhalten, zu bewahren“ (Wendepunkte, 100).
In dieser ekligen Welt, die sich dem blinden Walten von Naturvorgängen verdankt, gibt es also doch etwas, was dem guten Gott gefällt. Mehr noch: Er fordert Menschen auf, „gütig zu sein zu allen Mitgeschöpfen“ (Wendepunkte, 94) und diese Welt in Liebe zu verändern. Das ist eindeutig nicht mehr Marcion. Doch warum sich der „fremde Gott“ der Liebe auf einmal für diese Welt interessiert, die sich ihm gar nicht verdankt, und uns zur ihrer Erhaltung auffordert, wird mit dieser „Transformation“ des Glaubens an den Schöpfer nicht gut erklärt. Sie entlastet uns als Christinnen und Christen zwar von dem Vorwurf, Gott habe eine furchtbare Welt geschaffen. Was da naturgesetzlich geworden ist, hat ja mit Gott nichts zu tun. Wir können darum nüchtern konstatieren, was sich in der Perspektive der Naturwissenschaft zeigt. Wir können alle Vorwürfe von Seiten des Säkularismus zurückweisen, der Glaube an Gott sei wissenschaftsfeindlich.
Doch dieser Vorwurf ist auch zu entkräften, wenn man daran festhält, dass Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde ist. Er hat aus seiner Ewigkeit heraus eine ihm gegenüber selbständige Wirklichkeit in Dasein gerufen, die er uns zum Beherrschen wie zum Bebauen und Bewahren und so auch zum Erkennen ihres Werdens frei gegeben hat. Es ist nicht zu vergessen, dass die neuzeitliche Wissenschaft – wenn auch unter vielen Verkrampfungen und Irrwegen – auf dem Boden des Christentums groß geworden ist! Dass die Welt, die Gott ins Dasein gerufen hat, allerdings kein „Paradies“ ist, sondern Grenzen und dunkle Rätsel in Natur und Geschichte aufweist, hat der Mythos von der Vertreibung der Menschheit aus dem Paradies eindrücklich festgehalten. Wir werden mit Gottes Wirken nicht erklären können, warum die Saurier ausstarben und warum es Zecken gibt, die Menschen töten können.
Doch wir sollen uns nicht in diese Grenzen und dunklen Rätsel des Wirkens eines uns „verborgenen Gottes“ vergraben, hat insbesondere Martin Luther der reformatorischen Christenheit eingeprägt. Wir sollen uns, hat er gemeint, angesichts solcher Erfahrungen zu dem Gott der Liebe zu flüchten, der uns unsere Erde als einen guten Ort für ein begrenztes Leben erschließt. Er hat darum die Christenheit in den Fußspuren Jesu Christi zum Widerstand gegen alle Dunkelheiten in der Schöpfung Gottes ermutigt. Uns an der Licht- und nicht an der Schattenseite der Schöpfung zu orientieren, hat der evangelische Theologe Karl Barth im vorigen Jahrhundert im Sinne dieses Impulses der Christenheit geraten. Letztlich reimt sich das mit dem, worauf auch der katholische „Ketzer“ aus Paderborn, wenn auch nicht auf ganz schlüssige Weise, hinaus will. Der Glaube an den Schöpfer ist Vertrauen auf die weltverändernde Kraft der Liebe, das im Namen Jesu Christi in der Weltgeschichte verankert ist. Diese „Transformation“ des christlichen Glaubens in ein einziges Großmachen der Liebe, die von Gott in Jesus Christus ausgeht, ist wohl die nachhaltigste Botschaft, mit welcher die christliche Kirche heute dem Säkularismus wie der umherschweifenden „Bastelreligosität“ begegnet.
4. Liebe contra Zorn und Strafe
Dem Großmachen der Liebe als eigentlichem Kern des christlichen Glaubens an Gott und des christlichen Lebens steht freilich ein Einwand sowohl aus der Bibel wie auch aus der christlichen Tradition entgegen. Dieser Einwand entzündet sich auch überreichlich an den Liedern unseres Gesangbuches. Denn Gott wird hier beileibe nicht bloß als ein Gott, bei dem sich alles auf die Liebe reimt, zur Sprache gebracht. Gott begegnet hier auch als einer, der im Zorn über die Verletzung seiner Gebote Menschen unbarmherzig straft.
In der christlichen Verkündigung und Lehre der Vergangenheit hat dieses Gottesverständnis zur Folge gehabt, dass Gott auch nachdem er die Welt in Jesus Christus mit sich versöhnt hat (2. Kor. 5,19) weiter als strafender Gott verstanden wurde. „Wir sollen Gott fürchten (!) und lieben“, beginnen alle Erklärungen der 10 Gebote in Martin Luthers Kleinen Katechismus. Diese Vorrangstellung der Furcht vor dem strafenden Gott hat sich dann besonders im Blick auf das Verständnis des Gerichtes ausgewirkt, dass Jesus Christus am Ende der Zeiten halten wird. Denjenigen, welche sich der Liebes- und Versöhnungsbotschaft verweigern, wurde in Aussicht gestellt, nach ihren Leben ewig in der Hölle schmoren zu müssen. Die Schreckensbilder, die Hieronymus Bosch davon gemalt hat, aber auch Michelangelos Bild vom Weltgericht geben uns noch heute einen Eindruck davon, wie Menschen in Angst und Schrecken vor einem solchem Geschick gesetzt werden konnten. Dass Luther in seiner Anfangszeit, aber auch später von solchen Schreckensvisionen geplagt und angefochten war, duldet wohl keinen Zweifel. Die Erkenntnis, dass Christus von dieser Angst frei macht, zählt ja zu den Wurzeln der Reformation.
Dennoch hat auch Luther wie die reformatorische Theologie, die auf ihn folgte, am „doppelten Ausgang des Gerichts“ festgehalten. In der Dogmatik der sog. „lutherischen Orthodoxie“ klingt das so: „ Das Gericht wird gehalten werden von Christo […], den Frommen zum ersehnten Troste, den Gottlosen zum höchsten Schrecken.“ Sie werden „je nach dem Grade ihrer Gottlosigkeit in leiblichen und geistigen Schmerzen für ihre Sünden in Ewigkeit büßen.“ Die Frommen, denen ihre Sünden im Prinzip vergeben sind, aber werden „je nach dem Grade ihrer Frömmigkeit“ eine durch nichts gestörte Seligkeit genießen (Heinrich Schmid, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche7, 478).
Dass solche Vorstellungen ungeeignet sind, Menschen von heute für den Glauben an Gott zu gewinnen, versteht sich von selbst. Sie sind an das vorneuzeitliche Weltbild gebunden, in dem man sich „Himmel“ und „Hölle“ als reale Orte im Jenseits vorstellte. Sie schrecken auch Menschen nicht, so dass Furcht und Angst vor der Hölle Menschen zum Glauben treibt. Denn wer heute nicht an Gott glaubt, empfindet das keinesfalls als strafwürdig, sondern als Ausdruck seiner Selbstbestimmung. Theologisch aber ist eine solche Vorstellung vom „doppelten Ausgang des Gerichts“ vollends unmöglich. Man wollte mit ihr einer lässigen Heilssicherheit, einem Ausruhen auf der Gnade Jesu Christi wehren. Man wollte zur Geltung bringen, dass Christi Gnade keine Verharmlosung der Sünde bedeutet. Man wollte den Gott der Liebe nicht als – wie man heute sagt – „Kuschelgott“ predigen. Aber dieses Anliegen wird hier doch zu einem hohen Preis erkauft.
Hier wird nämlich Gott, der in Christus für alle Menschen eingetreten ist und sich aller erbarmt (Röm 11, 32), wieder zu einem erbarmungslosen Richter. Demgegenüber kann die sich christliche Hoffnung nur darauf richten, dass Gott auch in Ewigkeit der Gott der Liebe ist, der zwischen dem Menschen und seinen Taten unterscheidet und also mit dem Vergeben nicht aufhört. Faktisch-praktisch ist diese Vorstellung vom jüngsten Gericht denn – vielleicht außer in einigen fundamentalistischen Kreisen – auch aus der Verkündigung unserer Kirche verschwunden. Das Lied „O Ewigkeit, du Donnerwort“, das die Schrecken der ewigen Höllenstrafen in 17 Strophen schauerlich beschreibt, ist deshalb auch mit Recht aus unserem Gesangbuch entfernt worden. Können wir sagen, dass sich hier gegenüber der Vergangenheit tatsächlich schon eine Wandlung des Glaubens an Gott vollzogen hat?
Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Denn die Vorstellung vom strafenden Gott ist in der christlichen Tradition noch an einer anderen Stelle des Glaubens an Jesus Christus verankert. Das ist die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer für unsere Sünden. Sie besagt in der Fassung, in welcher sie das Glaubensbewusstsein unserer Kirche geprägt hat und wohl auch immer noch prägt, dass der gerechte Gott um seiner Ehre willen nicht auf die Bestrafung der sündigen Menschen verzichten kann. Gott nimmt damit ernst, was wir sündigen Menschen anrichten, und wischt es nicht einfach weg. Er nimmt auch sein eigenes Gesetz ernst, nämlich dass Menschen, die selbst Gott sein wollen und seine Schöpfung zugrunde richten, den Tod verdienen. Will er ihnen vergeben, dann muss diesem Gesetz zuerst Genüge getan werden. Das aber geschieht so, dass er seinen eigenen Sohn, der im Menschen Jesus „Fleisch wurde“ (Johannes 1,14), stellvertretend für alle anderen opferte. Indem er dieses Opfer für alle anderen annimmt, kann er es allen anderen als Befreiung von der Sünde zurechnen.
Ich kann jetzt unmöglich alle biblischen Belege, theologischen Interpretationen und Kritiken dieser Sühnopfer-Theorie diskutieren. Ich verweise darum die, die es interessiert, auf meine Auseinandersetzung mit K.-P. Jörns, der sich besonders der Bekämpfung dieser Theorie verschrieben hat (vgl. http://wolf-kroetke.de/vortraege/ansicht/eintrag/61.html). In unseren Gottesdiensten begegnet sie uns ja vor allem in den Passionsliedern, allen voran in denen von Paul Gerhardt: „Geh hin, mein Kind und nimm dich an, der Kinder, die ich ausgetan zur Straf und Zornesruten“, heißt es in dem Lied „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (EG 83,2). „die Straf ist schwer, der Zorn ist groß, du kannst sollst sie machen los durch Sterben und durch Bluten“.
Nicht erst seit heute, sondern schon im Mittelalter und erst Recht bei den Religionskritikern und Atheisten vom 18. Jahrhundert an ist an dieser Deutung des Todes Jesu, die im Neuen Testament nur eine unter anderen ist, schneidende Kritik geübt worden. Das sei „schauderhaftes Heidentum“, hat Friedrich Nietzsche gesagt. Das sei Verehrung eines „Götzen, der nur durch Blutsopfer besänftigt werden kann“, hat der Atheist Ernst Bloch hinzu gefügt. Das sei die Legitimierung göttlicher Gewalt, kann man heute von vielen Seiten hören. Wir können hinzu fügen: Die Vorstellung von der Opferpraxis im Alten Testament, dass man Leben opfern muss, um den zornigen Gott zu versöhnen, ist schlechthin ungeeignet, Menschen heute einen Zugang zum Glauben an Gott zu bahnen.
Wir müssen uns deshalb an anderen Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament orientieren. Sie verstehen Gott so, dass er sich im Kreuzestode Jesu mit den Leiden aller Menschen an den Auswirkungen der Sünde solidarisiert. Er identifiziert sich nicht mit den Mördern, die Jesus umbringen, sondern in Jesus mit den Opfern menschlicher, sündiger Gewaltexzesse. Er gibt uns, indem er uns im Abendmahl so gegenwärtig ist, Mut in aussichtslosen Situationen nicht zu verzagen, sondern mit ihm daran mitzuwirken, der Gewalt, die in der Welt herrscht, seit Kain seinen Bruder Abel auf dem Felde erschlug, in ihrer Absurdität durch die Gewaltlosigkeit der Liebe innerlich das Wasser abzugraben. Menschen, die wir zum Abendmahl einladen, laden wir dazu ein, dieses Anliegen in ihrem Leben ankern zu lassen
Schlussbemerkung
Ich muss zum Schluss kommen. Wie kann unsere Kirche dem Säkularismus, aber auch der Bastelreligiosität, die sie in unserer Gesellschaft umgibt, standhalten? – Das war unsere Ausgangsfrage. Sie war gekoppelt mit der Frage, ob sich der christliche Glaube wandeln muss, um den Herausforderungen gewachsen zu sein, vor denen sie angesichts dessen steht. Dass er sich selbst als Glaube wandeln muss, der an Jesus Christus orientiert ist, werden wir nach dem Durchgang durch die drei Problemfelder „Wahrheit“, „Schöpfung“ und „strafender Gott“ ganz gewiss nicht sagen. Christlicher Glaube ohne Christus ist ein Unding.
Aber dass dieser Glaube in den Worten und im Verhalten der Kirche und der vielen einzelnen Christinnen und Christen in den Gemeinden heute andere Aspekte in den Vordergrund stellen muss als z.B. in der Reformationszeit, ist sicher der Fall. So ist es ja im Grunde auch schon im Neuen Testament. Wie Paulus den Glauben darstellt, ist nicht ohne weiteres mit dem deckungsgleich, was das Johannesevangelium ca 50 Jahre später an Gottes Handeln in Jesus Christus wichtig fand. Wie die Alte Kirche den Glauben an Jesus Christus in ihren Bekenntnissen formuliert hat, ist im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder in Bewegung geraten.
Es ist darum recht, dass dieser Glaube auch heute in Bewegung ist, wo er sich auf die Verstehensmöglichkeiten dessen, wer Gott ist, in einer säkularen Gesellschaft einlassen muss. Dass die Gefahr besteht, dass er sich dabei allzu sehr den Trends von Meinungen in dieser Gesellschaft anpasst, haben wir uns am Beispiel des Trends, diesen Glauben auf das Niveau von bloß subjektiven Überzeugungen zurückzuschrauben und fundamentale Gewissheiten wie den Glauben an den Schöpfer zu durchlöchern, klar gemacht. Auf dem Plan blieb: Für die Liebe zu werben, mit der Gott alles Eingraben in ein Leben ohne tragenden Horizont überholt. Erzwingen kann man das Einstimmen von Menschen in diese wie in alle Liebe nicht. Aber für sie Menschen zu begeistern, bleibt dennoch er Auftrag von Menschen, die sich heute in einer christlichen Gemeinde versammeln.