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24.10.2010 00:00 Age: 14 yrs
Category: Predigten

Die "dunklen Seiten" der Bibel

Predigt in der Luther- und Nordendgemeinde Berlin am 24.10.2010


Liebe Gemeinde,

zu unserem Gottesdienst begrüße ich Sie recht herzlich. Es soll heute ein Themengottesdienst sein. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. Viele Sonntage haben ein Thema, das den Gottesdienst bestimmt. Heute jedoch lassen wir uns ein solches Thema aber nicht durch das Kirchenjahr vorgeben. Ich habe es aus aktuellem Anlass vielmehr selbst gewählt. Es heißt: „Die dunklen Seiten der Bibel“.

Das wird Sie sicherlich erstaunen. Denn das ist eigentlich ein für den christlichen Gottesdienst ungeeignetes Thema. Der Gottesdienst ist nicht dazu da, uns die Bibel zu vergraulen. Er soll sie uns vielmehr für unser Leben lieb zu machen. Darum kommen die Texte, auf die wir heute blicken wollen, im Gottesdienst normalerweise auch nicht vor.

Und das ist auch gut und richtig so. Denn dieses Buch ist uns nur überliefert worden, weil es eine gute Botschaft enthält. Das ist die Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes und von der Erhebung von uns Menschen zur Menschenwürde.

Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass es in der Bibel auch „dunkle Seiten“ gibt. Sie werden der Christenheit in der Auseinandersetzung um die Gewalttätigkeit von Religionen gerade heute immer wieder vorgehalten. Gott begegnet in der Bibel auch als grausamer Kriegsgott, der „heilige Kriege“ führt, als unbarmherziger Rächer, als in seinem Zorn maßlos gewalttätiger und erbarmungsloser Gott, der Massaker an anderen Völkern und Vertretern anderer Religionen verüben lässt. Hat das die Christenheit nicht angestiftet und stiftet es sie nicht bis heute an, gegen Menschen anderen Glaubens gewalttätig und intolerant zu werden? So werden wir heute gefragt und darauf wollen wir in diesem Gottesdienst antworten.

Wir tun das so, indem wir uns mit Texten aus dem Alten und Neuen Testament und mit Liedern aus unser christlichen Tradition die hellen Seiten der Bibel vergegenwärtigen. Sie sollen uns zeigen, wie wir mit auch mit ihren „dunklen Seiten“ recht umzugehen lernen. Darum beginnen wir auch mit einem Morgenlied, das vom Licht singt, welche alle Finsternis vertreibt; Nr. 440: All Morgen ist ganz frisch und neu.

 

Predigt:

Liebe Gemeinde,

wer die Worte aus dem 103. Psalm vom Erbarmen Gottes und die Liebesymphonie aus dem 1. Johannesbrief noch im Ohr hat und in dem die Lieder noch nachklingen, die wir eben gesungen haben, für den wird der Text einigermaßen schockierend sein, den ich jetzt aus dem 4. Buch Mose 15, 32-36 vorlese. Dort heißt es:

„Zur Zeit, da die Israeliten in der Wüste waren, traf man einen Mann, der am Sabbat Holz sammelte, und diejenigen, die ihn beim Holzsammeln getroffen hatten, brachten ihn vor Mose und Aaron und die ganze Gemeinde. Und sie legten ihn in Gewahrsam, denn es war noch nicht entschieden, was mit ihm geschehen sollte. Der Herr aber sprach zu Mose: Der Mann muss getötet werden; die ganze Gemeinde soll ihn außerhalb des Lagers steinigen. Da führte ihn die ganze Gemeinde vor das Lager hinaus und steinigte ihn zu Tode, wie der Herr dem Mose geboten hatte.“

Gott wird in dieser Geschichte also für eine der grausamsten Hinrichtungsarten, die sich Menschen ausgedacht haben, in Anspruch genommen. Menschen werden nicht nur hingerichtet, sondern – ähnlich der Kreuzigung, die Jesus und viele Tausende vor ihm und nach ihm erleiden mussten  – zu Tode gequält. Die Taliban hatten in der Zeit ihrer Herrschaft diese Art der Hinrichtung z.B. für Ehebruch ja auch wieder eingeführt. Im Iran wird sie noch heute praktiziert. Chaled Husseini hat in seinem Roman „Der Drachenläufer“ erzählt, wie eine solche Steinigung konkret aussieht. Ich erspare uns das hier.

In unserer Geschichte wird ein Mann gesteinigt, der Holz sammelte, weil er oder wahrscheinlich seine Familie gefroren haben. Da er aber durch das Holzsammeln am Sabbat gegen Gottes Gebot verstoßen hatte, musste er einen der grausamsten aller Tode sterben.

Ich wehre mich als Christ mit ihnen gegen diese Geschichte, indem ich eine andere Geschichte vorlese, die auch in der Bibel steht, nämlich im Markusevangelium, 2, 23-28. Dort heißt es: „Und es begab sich, dass (Jesus) am Sabbat durch die Saaten dahin wanderte; und seine Jünger fingen an, auf dem Weg Ähren abzureißen. Und die Pharisäer sagten zu ihm: Siehe, warum tun sie am Sabbat, was nicht erlaubt nicht? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr niemals gelesen, was David tat, als er Not litt und ihn und seine Begleiter hungerte? Wie er in das Haus Gottes hinein ging zur Zeit des Hohenpriesters Abjathar und die Schaubrote aß, die niemand essen darf, als nur die Priester und wie er auch seinen Begleitern davon gab? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen worden und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Somit ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“

Ich will annehmen, dass Jesus oder wenigstens dem Verfasser des Markusevangeliums jene andere Geschichte bekannt war. Warum haben sich Jesus oder Markus nicht an sie gebunden gefühlt, ihr nicht ein allzeit gültiges Moment von Gotteserfahrung zugebilligt? Warum haben sie geradezu das Gegenteil von dem gesagt, was der Herr damals zu Mose und Aaron sprach? Die Antwort dürfte nicht schwer sein: Weil Gott so zu ihnen nicht gesprochen hat. Weil die Gotteserfahrung, die hier zum Ausdruck kommt, es ausschließt, dass von Gott etwas Derartiges befohlen wird, wie es im Falle des Holzsammlers befohlen und exekutiert wurde.

Die Gotteserfahrung Jesu und des Evangeliums lässt noch nicht einmal eine kleine Ritze für die Möglichkeit, dass Gott einen Menschen, einen Angehörigen seines erwählten Volkes zumal, wegen eines lächerlichen Vergehens zu Tode quälen lässt. Von ihm ist nur zu erwarten, dass seine Gebote uns Menschen zugute kommen. Denn er ist die Quelle alles Guten. Wenn Gott einmal so gehört und verstanden wurde, wie im 4. Buch Mose und nicht nur dort, dann ist das jetzt eine veraltete Gotteserfahrung. Es keine Zukunft mehr.

Zukunft hat in der Bibel – mit den Augen Jesu gesehen und mit den Ohren des 103. Psalms gehört – vielmehr nur das, was zur Verheißung für Israel und die ganze Menschenwelt zu werden vermag und geworden ist: Der Bund Gottes mit diesem Volk und mit der Menschenwelt. Kalte, Menschen quälende Grausamkeit, Rache, Mordlust und praktizierte Gewaltphantasien sind schon in Israels Lob des barmherzigen Gottes und erst recht in Jesu Verkündigung das, was schlechterdings nicht zur Verheißung für die Menschheit zu werden vermag.

Warum aber, so mögen Sie sich fragen, liebe Gemeinde, werden uns dann in der Bibel solche Geschichten überliefert? Hätte man sie nicht einfach aus der Bibel streichen sollen, als im Judentum und in der Kirche die biblischen Texte als maßgelbliche Grundlage des Gottesglaubens zusammen gestellt wurden?

Heute gibt es tatsächlich Theologen, die eine solche Reinigung der Bibel von ihren dunklen Seiten vorschlagen. Sollten wir uns ihnen nicht anschließen, damit niemand wieder auf die Idee kommt, einen unberechenbar grausamen Gott, der seine Feinde ausrottet und grausam straft, für menschliche Grausamkeiten in Anspruch zu nehmen? Denn wir dürfen ja nicht die Augen davor verschließen, dass das in der Geschichte der Christenheit tatsächlich geschehen ist. Die dunklen Seiten der Bibel haben auch eine dunkle Gewaltgeschichte der christlichen Kirche motiviert. Die mit Massakern und Morden verbundene sog. Christianisierung der Sachsen, der Inkas und Azteken hat sich – um von den Kreuzzügen zu schweigen – unter der Berufung auf den Gott vollzogen, der die sogenannten Heiden „zerschmettert“. 

Die „dunklen Seiten“ der Bibel sind also durchaus gefährliche Seiten. Sie können Menschen veranlassen, sich selbst auf dunkle Wege zu begeben. Aber dennoch würde ich zögern, mich der Forderung anzuschließen, sie aus der Bibel zu streichen. Denn dieses Buch mit seinen Überlieferungen aus vielen Jahrtausenden und Jahrhunderten ist nun einmal nicht eine Art Mao-Fibel, in der nur nachzubetende wahre Sprüche stehen. Es ist vielmehr ein Geschichten-Buch, das uns herausfordert, selber zwischen hell und dunkel zu unterscheiden. Helles kann nur leuchten, wenn auch Dunkel da ist. Neues kann nur wahrnehmen, wer das Alte kennt. Gutes kann nur bejahen, wer das Böse verneint.

Die Bibel ist kein Buch, das darüber hinweg täuscht und uns die Welt nur in rosa-roten Farben malt. Sie ist mit ihren vielen Geschichten aus der Realität des menschlichen Lebens, zu der die Realität des religiösen Lebens hinzu gehört, ein ungeheuer realistisches Buch, das nichts verkleistert und schön redet. Sie kennt hell und dunkel, alt und neu, gut und böse. Aber sie kennt es in einem eindeutigen und klaren Gefälle. Sie will uns angesichts des Dunklen, des Alten und Bösen für das Helle, das Neue und Gute begeistern, das Gott ins Werk setzt.

Sie will darum durchaus kritische Leserinnen und Leser haben, die in der Lage sind, „Nein“ zu dem zu sagen, was mit dem Holzsammler geschieht und „Ja“ zu dem, wie Jesus das Gebot Gottes uns Menschen zu Gute ausgelegt hat. Sie will keinen „Fundamentalismus“, wie man heute ein Bibelverständnis nennt, das jeden Buchstaben dieses Buches wie eine vom Himmel gefallene unfehlbare Wahrheit versteht. Sie will, hat Martin Luther gesagt, dass wir in ihr suchen und hoch schätzen, „was Christum treibet“. Das heißt in unserer heutigen Sprache ausgedrückt, dass wir uns von der Klarheit der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes mitreißen lassen und so uns selber vom zerstörerisch Dunklen, Alten und Bösen abwenden.

Ich halte deshalb gar nichts davon, dass heute da und dort versucht wird, den dunklen Seiten der Bibel einen positiven Sinn für unser Gottesverständnis abzuringen. Diese positive Sinn soll darin bestehen, dass uns die Geschichten vom zornigen Rache- und Kriegsgott und vom maßlos strafenden Richter einen in seiner unbegreiflichen Majestät und Macht zu fürchtenden Gott vor Augen führen. Daran zu erinnern – so meint man – sei auch heute nötig. Denn wenn wir Gott nicht in seinem dunklen Wirken fürchten, dann wird er uns auf die Dauer der Zeit gleichgültig, dann wird er uns zum „Gottchen“, wie die Berliner sagen.

Die vielen Menschen in unserer Gesellschaft, denen er gleichgültig geworden ist, beweisen das angeblich. Weil sie Gott nur als einen „Kuschelgott“ verstehen, der mit seiner dunklen Macht nicht ernsthaft ihr Leben durchrüttelt, vergessen sie ihn. Nur der Mensch, den Gott zunächst einmal in Angst und Schrecken versetzt hat, kann seine Liebe dann auch richtig schätzen lernen. Diese Anschauung hat in der Geschichte der christlichen Kirche eine lange Tradition. Sie ist leider auch von Martin Luther vertreten worden.

Denn er war der Meinung, ein Gott, der in seiner allmächtigen Wirksamkeit nicht Gutes und Böses tun kann, wie er will, sei ein lächerlicher Gott. Ohne dass uns Gott wirklich majestätisch angeht, uns Mark, Bein und Gemüt erschüttert, könnten wir gar nicht verstehen und würdigen, dass es tatsächlich der allmächtige, allwirksame Gott ist, der uns in Christus begegnet.

„Gott kann nicht Gott sein“, hat sich Luther darum zu sagen getraut, „er muss zuvor ein Teufel werden, und wir können nicht gen Himmel kommen, wir müssen vorher in die Hölle fahren, können nicht Gottes Kinder werden, wir werden denn zuvor des Teufels Kinder“. Luther hat zwar hinzugefügt. „Es damit aber noch nicht aller Tage Abend. Es heißt doch zuletzt: Seine Gnade und Treue waltet über uns“. Im biblischen Gefälle von neu und alt, von hell und dunkel aber muss dieser Satz dennoch geradezu umgekehrt werden. „Es heißt doch zuerst: Seine Gnade und Treue waltet über uns“ muss er heißen.

Denn wir haben, liebe Gemeinde, wenn wir aus dem Geist der Bibel heraus leben möchten, Gottes Allmacht von seiner Liebe her verstehen. Die hellen Seiten der Bibel lassen uns da keine andere Wahl. Sie reden davon, dass der Allmächtige nur auf den Wegen der Liebe, auch wenn sie noch so verborgen sind, unser Gott sein möchte. Er wird uns dadurch wahrlich nicht zum harmlosen „Kuschelgott“. Denn die Wege, die er mit der Menschheit und mit jedem Einzelnen von uns geht, führen durch viele Täler und viele Dunkelheiten, die hart sind und die wir nicht oder nur schwer verstehen. Die Versuchung, angesichts dessen wieder in die dunklen Seiten der Bibel zurück zu sinken und Gott für ein grausames Ungeheuer zu halten, ist darum groß.

Aber die hellen Seiten der Bibel leisten dieser trostlosen Versuchung Widerstand. Sie geben uns die Kraft, selbst im finsteren Tal bei dem Gott bleiben, dem alle Gewalttätigkeit fremd ist; der lieber mit uns leidet als von seiner Liebe zu uns zu lassen, Sie geben unserem Leben einen Horizont, in dem wir uns wieder aufrichten und Lebensmut fassen können; einen Horizont, in dem wir – was auch immer geschieht – liebenswerte Menschen mit einer ganz besonderen Würde sind.

Die „dunklen Seiten“ der Bibel aber sollten wir lassen, was sie sind: Vergangene Geschichten und Gottesvorstellungen, die uns höchstens veranlassen können, das helle Wort Gottes um so höher zu schätzen. Amen.


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