Category: Predigten
Wir bringen unsere Tage zu wie Geschwätz (Psalm 90, 9)
Predigt in der Luther- und Nordendgemeinde Berlin am 23.10.2011
Liebe Gemeinde,
wir können es drehen und wenden, wie wir wollen. Wenn wir von Zeit reden, reden wir von einem Ablauf. Zukunft wird Gegenwart. Gegenwart wird Vergangenheit. So erleben wir die Zeit. Dabei ist die Gegenwart offenkundig das schwächste, flüchtigste Glied in der Kette. Die Zukunft haben wir immer noch vor uns. Die Vergangenheit stapelt sich nicht nur im Laufe eines Lebens, sondern in der Geschichte von allem, was ist, zu einem großen Archiv an. Aber die Gegenwart huscht vorbei. Was ich gerade jetzt sage, ist eine Sekunde später schon Vergangenheit. Das Gestern frisst das Heute und das Morgen offenbar beständig auf.
Solange man jung ist, nimmt man diese Gefräßigkeit der Vergangenheit nicht so ernst. Da hat man eine unüberschaubare Fülle von Zukunftsmöglichkeiten vor sich. Da nimmt man gar nicht richtig wahr, dass man mit seinem Leben die Vergangenheit füttert. Wenn wir erwachsen werden, halten sich Zukunft und Vergangenheit ungefähr die Waage. Es ist die Zeit, in der – wie es heißt – die Mitlifcrisis allmählich ausbricht. Wir müssen uns langsam damit beschäftigen, dass die Möglichkeiten der Zukunft in unserem begrenzten Leben schrumpfen. Das Archiv unserer Vergangenheit beginnt in unserem Leben den Taktstock zu schwingen.
Wenn wir alt geworden sind, droht dieser Taktstock sogar die Herrschaft über unser Leben zu übernehmen. Menschen beginnen mehr in Erinnerungen als in Erwartungen zu leben. Missmut über die Gegenwart der Jungen und Erwachsenen macht sich breit. „Früher war das anders“, wird zum Argument an sich, um zu blockieren, dass neue Möglichkeiten der Zukunft in die Gegenwart einsprudeln. „Bringt doch sowieso nichts“, kann es auch miesepetrich heißen, weil das „Früher“ auch nichts so Rechtes hergegeben hat, was das Heute mit Zukunft erfüllt.
Wir dürfen vermuten, liebe Gemeinde, das Kohelet, auf deutsch der „Versammlungsleiter“, den wir vorhin gehört haben, ein ziemlich alter Mensch war. Denn seine Weisheit besteht vor allem aus Rückblick. Das Fazit dieses Rückblicks aber ist: Alles ist nichtig. So lautet die Erfahrung seines Lebens.
„Nichtig“ heißt auf Hebräisch „Häbel“. Da schwingt schon im Wortklang irgendetwas Vergebliches, Trauriges mit. „Häbel“ – Bibelkundige kennen dieses Wort. Es steckt in Abel, den sein Bruder Kain in Wut über ein gelungenes Leben sinnlos auf dem Felde erschlug. Er ist der Repräsentant Aller, die vergeblich gelebt haben, deren Lebenssumme zunichte gemacht wurde. Als „Häbel“, als nichtig, weil dem Tode geweiht, will uns der größte Griesgram der Bibel, der Versammlungsleiter einer resignierten Gemeinde, nun auch unser Leben vor Augen stellen.
Er hat dabei nicht nur die Jahre und Zeiten vor Augen, die uns tatsächlich irgendwie verloren gegangen sind, so dass wir uns kaum noch an sie erinnern. Nichtig ist in seinen Augen Alles, was wir tun und lassen, selbst das Beste, selbst das Mühen um Weisheit, das auch unserem Kohelet nur Verdruss bereitet. Wahrscheinlich hat Luther dasselbe gemeint, als er den Psalm 90, 9 übersetzte: „Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz“. Geschwätz ist Klatsch und Tratsch zum Vergessen, überflüssiges, dummes Gerede, mit dem wir die Zeit totschlagen. Es ist die Art und Weise, mit der wir Menschen darüber hinweg reden, dass wir im Grunde nichts zu sagen haben.
Solches Geschwätz spielt in unserem Leben eine gar nicht zu übersehende Rolle. Kaum ist der Radiowecker am Morgen angesprungen, ertönt schon eine eigens dafür ausgebildete Quasselstrippe. Geschwätz über dies und das begleitet den Weg durch den Tag. Was bei der Arbeit, auf Sitzungen, im Supermarkt, auf der Straße, bei Freizeitvernügungen und erst recht natürlich an Stammtischen alles so geredet wird, macht das Geschwätz zum anhänglichen Begleiter jedes Tagesablaufs. „Mit dem einen Maule schon, schwätzt zu viel der Erdensohn“, hat Heinrich Heine in Freude darüber gedichtet, dass wir nicht zwei Münder haben.
Die Medien von heute tun das Ihre, um den Lebensbegleiter namens Geschwätz mit Stoff zu versehen. Sie sind längst dazu übergangen, nicht bloß Wichtiges mitzuteilen. Sie sind auch ein mächtiges Sprachrohr von Gerede. Es ist nicht darum nicht verwunderlich, dass es immer mehr Menschen – besonders Internetbenutzerinnen und -Benutzern – schwer fällt, Wichtiges von Unwichtigem, hohle von tragenden Worten zu unterscheiden.
Trotzdem, liebe Gemeinde, reicht das Alles nicht zu, um unser ganze Leben als Geschwätz zu verstehen oder es mit der Unwichtigkeit von Geschwätz zu vergleichen. Im Leben jedes Menschen gibt es schwer gewichtige Zeiten, die ihm Stabilität verleihen und ihn als besonderen Menschen mit einem besonderen Namen unübersehbar und unverkennbar machen.
Es ist nicht unwichtig wie ein Geschwätz, dass wir die Fürsorge unserer Eltern erfahren durften, dass wir Freundinnen und Freunde gefunden haben, dass wir lieben konnten und geliebt werden, dass wir unsere Begabungen zu nutzen vermochten, dass die Kunst unser Lebensempfinden gesteigert hat, ja auch dass Trauer, Leid und Schmerz mit ihrem Gewicht zu uns gehören. Das alles ist in unser Leben eingezeichnet und drückt sich im Laufe der Jahre sogar in unserem Gesicht und in unseren Augen aus.
Wenn der biblische Griesgram, in dessen Spuren Martin Luther bei der Übersetzung von Psalm 90,2 wandelt, dieses Gewicht und Profil unseres eigenen Leben dennoch in den großen Sack des Nichtigen steckt, so hat das einen einfachen Grund. Auf der Bühne des Lebens der Menschheit aufgestellt ist ein einzelnes Leben von – wenn’s hoch kommt – achtzig Jahren ein Klacks. Spätestens in der Mitlifcrisis bemerken wir es selber. „Es fähret schnell dahin, als flögen wir davon“. Es verschwindet – von ein paar Figuren der großen Weltgeschichte abgesehen – im Schlunde der Vergangenheit. Wer von uns weiß z.B. noch genau, wer seine Urgroßeltern waren? Wer wird von uns, die wir hier sitzen, im Jahre 2111 noch irgendetwas wissen?
Wir haften, liebe Gemeinde, mit all unserem ganz respektablen Gewicht in den Lebzeiten nicht auf dieser Erde. Wir müssen davon – so wie „die Nelken all verwelken und verderben, so muss auch der Mensch hinsterben“, heißt es in einer Variation des Liedes, das wir vorhin gesungen haben. Und jeder vergangene Tag, ja jede vergangene Sekunde predigt dieses Hinsterben, predigt das große Vorbei, das große Nichtig, weil flüchtig.
Martin Luther hat das mit seinem Vergleich unserer Lebensjahre mit einem Geschwätz im Grunde nicht so gut getroffen. Wörtlich übersetzt heißt dieser Text nämlich eigentlich: „Unsere Jahre gehen dahin wie ein Seufzer“. Ein Seufzer – das ist ein kurzes Aufstöhnen. Ein Seufzer – das ist ein wortloser Moment, in dem wir einen Augenblick lang Luft ablassen. Das kann entspannend für einen sein, der in einer unentrinnbaren Klemme sitzt. Luft ablassen ist da immer gut. Aber sitzen wir wirklich in der Klemme, in einer großen Sackgasse, weil Gott uns unser Leben wie den Menschen vor und nach uns nur für eine kurze Zeit geschenkt hat?
Der biblische Griesgram, von dem auch Martin Luther beeindruckt war, scheint das zu meinen. Die Zeit zerschreddert jede und jeden Einzelnen von uns. Es ist unter dem Strich ganz unwichtig, was wir mit unserer Lebenszeit anfangen. Es ist letztlich alles verlorene Zeit.
Wenn man das Beste aus dieser trübsinnigen Ansicht machen will, dann könnte man vielleicht sagen: Sie stärkt die die Demut. Sie wehrt der tollen Selbstüberschätzung, mit der Menschen sich einbilden, sie seien mit ihren Leistungen selber eine Art Gott. Wer alles als vergänglich wahrnimmt, verliert die Lust, sich im Kampfe um Bedeutung, Erfolg und Macht abzustrampeln. Er wird ein bescheidener Mensch, der weiß, wie relativ auf dieser Erde Alles ist, was er vollbringt und was andere tun.
Doch leider führt das Bewusstmachen der Vergänglichkeit unseres Lebens bei sehr vielen Menschen gerade heutzutage überhaupt nicht zu so etwas wie Demut und Bescheidenheit. Sie lernen schon in der Schule, dass die ganze Menschheit bloß zufällig am Rande eines schweigenden Universums entstanden ist und eines Tages samt der Erde wieder verschwinden wird. Es ist unserem Milchstraßensystem völlig gleichgültig, ob wir da sind oder nicht. Deshalb ist es auch egal, was wir aus unserem Leben machen. Es ist sowieso sinnlos. Worauf es ankommt, ist, so lange es geht, aus dieser Lebenszeit zu unserem eigenen Nutzen so viel wie möglich heraus zu schlagen und dann möglichst schmerzlos von dieser Erde wieder zu verschwinden.
Die Diskussion um die sog. „Werte“, die seit Jahren in unserer Gesellschaft geführt wird, ist im Grunde eine Reaktion auf diese Lebenseinstellung. Wenn es nur gilt, einen flüchtigen Augenblick nach dem anderen auszukosten, wenn in der vergänglichen Zeit nichts in der Seele haftet und Menschen sich bei nicht behaften lassen, dann werden wir Leichtgewichte. Wir lassen uns dann mal dahin und mal dorthin treiben. Wir segeln mit den Winden, die gerade wehen oder sind im Geschwätz unserer Tage zu jedem Unfug verführbar. Man kann sich – kurz und gut – auf uns in keiner Hinsicht mehr richtig verlassen.
„Werte“ – eigentlich ein Begriff aus der Wirtschaftssprache – sollen uns und vor allem jungen Menschen demgegenüber die Schwerkraft von Verlässlichkeit geben. Nur woher sollen diese Werte kommen? Wie sollen sie in unserem Sinnen und Trachten haften? Sie sind ja auch vergänglich wie wir selbst. Die Antwort darauf, liebe Gemeinde, ist verhältnismäßig einfach:
Wir nehmen der Vergangenheit, die alles in den Schlund der Nichtigen zieht, den Taktstock weg, mit dem sie über unserem Leben fuchtelt. Niemand zwingt uns doch dazu, unsere Lebenszeit dem Diktat des flüchtigen Augenblicks zu überlassen und so durch die Zeit zu trudeln wie lose Blätter im Herbstwind.
Es stimmt nämlich gar nicht, dass das Grundmuster unserer alltäglichen Zeiterfahrung der weiter tickende Sekundenzeiger ist, auf den wir ohne Unterlass gebannt starren. Man kann sich das ganz einfach klar machen. Wir graben den Garten um, wir lesen ein Buch, wir unterhalten uns, wir spielen, wir feiern usw. Wir sind in dies und das vertieft und merken gar nicht, wie die Zeit vergeht. „Was, schon so spät“, rufen wir erstaunt aus, wenn wir dann auf die Uhr schauen. Wir haben die Zeit also nicht als Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt. Die Zeit ist uns, so wir sie ursprünglich, eigentlich erleben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einmal.
Wir können deshalb ohne Weiteres einen großen Satz wagen und sagen: Sie ähnelt in dieser Hinsicht der Ewigkeit. Denn die Ewigkeit als Gottes Zeit ist nicht irgendein endloser Ablauf. In ihr sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu dem einem Ereignis des Lebens Gottes konzentriert. Wir sind nicht Gott. Wir sind endlich und vergänglich. Aber indem auch wir die Erfahrung konzentrierter Zeit machen können, sind wir an Gottes Ewigkeit sozusagen angeschlossen.
In diesem Anschluss jedoch geht nichts verloren, auch das nicht, was wir längst vergessen haben oder am liebsten vergessen würden; auch das nicht, was wir als verlorene Zeit ansehen. Der Taktstock der Vergangenheit, der uns unsere Nichtigkeit einbläuen will und Lücken der Leere in unsere Zeit zu reißen droht, wird zwar nicht aufhören, uns zuzusetzen.
Aber wenn das geschieht, dann ist es an der Zeit, von unserem Anschluss an Gottes Ewigkeit Gebrauch zu machen. Der Beter des 90. Psalms macht es uns vor, wie das geht. „Fülle uns frühe mit deiner Gnade“, bittet er den ewigen Gott um Kraftzufuhr aus der Ewigkeit am Morgen jedes Tages. Das bedeutet: „Halte Du unsere Zeiten zusammen, damit sie uns nicht auseinander fallen. Wo du gegenwärtig bist, können wir uns des Widerscheins Deiner Ewigkeit in unserer Zeit freuen und sie dankbar aus Deinen Händen empfangen“. Amen.