Predigten
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09.05.2010 00:00 Age: 14 yrs
Category: Predigten

1. Timotheus 2, 1-6

Predigt in der Nordendgemeinde Berlin am Sonntag Rogate, 09.05.2010


Liebe Gemeinde,

Beten gehört zum christlichen Leben wie die Luft zum Atmen. Ohne Beten gibt es keine Nachfolge Jesu, der seinen Weg betend gegangen ist und der Christenheit die Worte seines Gebets mit auf den Weg gegeben hat. Ohne Beten gab und gibt es keine christliche Kirche, die nur glaubwürdig von Gott reden kann, indem sie mit Gott redet. Ohne Beten wäre der Glaube der einzelnen Christinnen und Christen so etwas wie eine religiöse Ideologie ohne Tiefgang und Durchhaltekraft.

Denn Beten macht Ernst damit, dass Gott in unserem Leben gegenwärtig ist und Kontakt mit uns hält. Die Aufforderung zum Beten zieht sich darum wie ein roter Faden durch die ganze Bibel. Der Name des heutigen Sonntags: „Rogate, Betet“ setzt hinter diese ständige biblische Aufforderung nur noch ein besonders dickes Ausrufezeichen. Ja, wir müssen leider auch sagen: ein heute besonders nötiges Ausrufezeichen.

So selbstverständlich wie Glauben und Beten im Wurzelgrund des Christentums zusammen gehören, bilden sie nämlich – wie Sie Alle wissen – im alltäglichen Leben der Christenheit von heute und in unseren Landen durchaus nicht ein unangefochtenes Paar. Denn Beten hat viele Widersacher, die ihm zusetzen, es stottrig oder hohl werden lassen und es schließlich zum Verstummen bringen.

Da sind die Menschen um uns her, denen Beten – ob mit oder ohne „realen Sozialismus“ – schon seit Langem etwas völlig Fremdes oder Absurdes geworden ist. Verirren sie sich auf eine christliche Beerdigung oder in den Heiligabendgottesdienst stecken sie bei der Aufforderung: „Lasset uns beten“ peinlich berührt die Hände in die Hosentaschen oder lassen ihr Gesicht in lauter Abweisung erstarren.

Da sind die Menschen mit Bildung in der europäischen Geistesgeschichte, die sich von den Philosophen haben belehren lassen, dass Beten überhaupt etwas Menschenunwürdiges sei. Es widerspricht nach deren Meinung der Selbstbestimmung von Menschen zur Vernunft und zur Moral, sich bettelnd und bittend vor einem Gotte zu erniedrigen. „Wer Fortschritte im Guten gemacht hat, hört auf zu beten“, hat Immanuel Kant behauptet. Allerdings hat er glücklicherweise nicht das Umgekehrte gesagt, dass Aufhören mit Beten auch schon ein Fortschritt im Guten sei. Dazu gibt es der nicht-betenden Bösewichter denn doch zu viele!

Aber nun haben wir zu allem Überfluss ja auch noch die richtig wilden Atheisten. Sie geben heutzutage Friedrich Nietzsches bösen Worten über das Christentum wieder eine lautstarke Stimme. Es handle sich bei den Christen „um kleine Mucker und Dreiviertelsverrückte“, hatte dieser Pastorensohn aus Röcken bei Leipzig behauptet. Sie bildeten sich tatsächlich ein, dass um „ihretwillen beständig die Naturgesetze durchbrochen werden“. Die Wissenschaft macht damit Schluss, meinte Nietzsche und mit ihm die mehr oder weniger wilden atheistischen Zeitgenossen von heute.

Das Alles – dieses Niedermachen des Betens – hinterlässt natürlich Spuren in der Betefreudigkeit der Christenheit. Sie – diese Betefreudigkeit – wird durchlöchert und geschwächt von einem ganzen Schwall von Einwänden und Zweifeln aus den verschiedensten Ecken. Man kann es ganz äußerlich am Nachlassen christlicher Gebetsgewohnheiten bemerken. Eltern, die ihre Kinder mit einem Abendgebet in den Schlaf geleiten, werden zur Ausnahme. Das Tischgebet verschwindet aus den Familien. Dass der Tag morgens mit einer Andacht beginnt, wie ich es selbst es z.B. in meinem Elternhause erlebt habe, dürfte unterdessen zum seltenen Fall geworden sein.

Doch ich will diesen seltenen Fall durchaus nicht als Idealfall eines christlichen Lebens preisen. Festgelegte Gebetszeiten können das Beten auch zum äußerlichen Ritus, zum Gesetz, zur abzuleistenden Gewohnheit werden lassen. Aus der Freiheit zum Beten wird dann der Zwang zum Beten, bei dem die Seele gar nicht richtig mit dabei ist. Die Kandidaten im Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde waren z.B. durchaus nicht alle begeistert, als Dietrich Bonhoeffer ihnen dreimal am Tage lange Gebetszeiten verordnete. Ihnen fiele nichts mehr ein, was sie beten sollen, und vorformulierte Gebete würden auf die Dauer zur gebetsmühlenartigen Leierei, haben sie gemeint.

Beten, liebe Schwestern und Brüder, ist eben auch ein recht und schlecht menschliches Werk mit all den Schwächen und Fragwürdigkeiten, mit denen wir auch sonst unsere Werke belasten. Zwischen einem Gebet von Herzen, mit dem wir im stillen Kämmerlein unser Herz vor Gott ausschütten, und der religiösen Organisation des Betens, die es wie ein Schauspiel sogar ins Fernsehen schafft, menschelt es eben gewaltig.

Wer ein Leben lang mit diesem Menscheln beim Beten seine Erfahrungen gemacht hat, wird sich darum hüten, irgendeine Form des Betens als perfekte Erfüllung des Gebotes „Rogate, betet“ auszugeben. Im Kämmerlein – allein vor Gott und umgeben von Gebetsabstinenzlern – versagen uns so oft die Worte. Da kann es richtig befreiend sein, dass wir in die Gebetsworte der Bibel, aber auch der kirchlichen Ritualisierung des Betens einstimmen können. In das gottesdienstliche, öffentliche Beten unserer Kirche fließen umgekehrt – wie wir das vom Beten in unserer Nordendgemeinde wohl sagen können – immer wieder ganz viele persönliche Gebetsanliegen ein, mit denen wir von Herzen einverstanden sein können.

Es ist darum nicht geraten, irgendeine Form des Betens gegen die andere auszuspielen. Im Menscheln kann jede verenden und in wahrhafter Gottesanrufung kann jede aufblühen. Soll es da nicht zu einem andauernden Hin- und Herschwanken kommen, dann ist so etwas wie ein Gebetsrückrat nötig, das nicht gleich von jedem Angriff auf das Beten einen Bandscheibenvorfall bekommt. Und damit komme ich nun endlich auf die Epistel des heutigen Sonntags, unseren Predigttext.

Dieser Text spitzt die Aufforderung „Rogate, betet“ auf die Pointe zu: „Betet für alle Menschen“.  Begründet wir diese Aufforderung zur Fürbitte in großem Umfang mit dem Willen des Gottes, zu dem die Christenheit betet. Er will allen Menschen zur „Erkenntnis der Wahrheit“ helfen, heißt es da. Das klingt für unsere Ohren ein bisschen so, als ginge es Gott um irgendwelche intellektuellen Leistungen von uns Menschen.

Doch das Wort „Erkenntnis“ hat hier wie meistens in der Bibel einen anderen Klang. Es meint das in Erfahrungen verankerte Sichverstehen von Menschen auf andere Menschen, vor allem aber das Sichverstehen auf Gott. Zur Erkenntnis der Wahrheit Gottes kommen, bedeutet darum, ganz davon durchdrungen sein, wie gut es ist, dass Gott mit uns Menschen zusammen Gott sein will. Weil die Wahrheit Gottes aber den Namen Jesu Christi trägt, gelten alle Einwände nicht, die gegen dieses Zusammensein sprechen.

Weder der gebetslose Unglaube so vieler Menschen noch unser eigenes Menscheln beim Beten haben die Macht, dieses Zusammensein zu kassieren. Wer sich auf Gott versteht, wie er uns durch das Leben und Sterben Jesu Christi eindrücklich wird, kann das für keine letzten Einwände halten. Gott resigniert nicht, wenn seine Geschöpfe dabei sind, dieses Zusammensein zugrunde zu richten. Darum resignieren die, die sich auf Gott verstehen, auch nicht. Im Gegenteil, sie schöpfen Mut, sich an Gottes Absichten mit der Menschheit zu beteiligen.

Die Aufforderung, für alle Menschen zu beten, bekommt dadurch einen ganz besonderen Klang. Es geht beim Beten der Christenheit nicht nur darum, dass einzelne Menschen sich in innerlicher Frömmigkeit betend der Führung ihres Lebens durch Gott anvertrauen. Eine solche Frömmigkeit, in der wiederum z.B. Dietrich Bonhoeffer gelebt hat, kann zwar ein starkes Rückrat verleihen, wenn Leid, Misserfolge und Nackenschläge unseren geraden Lebensweg ins Schleudern bringen. „Gott Hand und Führung sind mir so gewiss, dass ich hoffe, immer in dieser Gewissheit bewahrt zu werden“, hat Bonhoeffer 1944 ein paar Tage nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler an seinen Freund Eberhard Bethge aus dem Gefängnis geschrieben.

Bonhoeffer wusste aber zugleich auch, dass der Gott seines persönlichen, frommen Lebens der Herr der Geschichte ist, der will, dass alle Menschen sich auf ein Leben mit ihm und aus ihm verstehen. Die Aufforderung unseres Predigttextes, für alle Menschen zu beten, verleiht dem Beten darum einen weiten Horizont, wie Gott ihn hat.

Sie ruft uns auf, die Augen weit aufzumachen. Sie möchte, dass wir uns wie Gott das Geschick und Ergehen der Menschen um uns her, ja auf der ganzen Erde angehen lassen. Sie möchte, dass wir daran mitwirken, dass alle Menschen sich auf Gott verstehen lernen. Sie beteiligt uns gewissermaßen an Gottes Weltregierung. Wir dürfen und sollen Gott aufgrund unserer Erfahrungen in der Welt Vorschläge machen, wie er mit seinem Geist die Herzen der Menschen erreicht und ihre Wege und Geschicke zum Besten leitet.

Dass betende Menschen kleine bettelnde Duckmäuser seien, ist deshalb wirklich nur eine üble Nachrede aus der antireligiösen Gerüchteküche. Wer an Gottes Weltregierung teilnimmt, richtet sich vielmehr auf und leistet dem Elend Widerstand, das Menschen sich durch ihr Tun auf den Hals ziehen oder in das sie unverschuldet geraten. Wer an Gottes Weltregierung teilnimmt, pflegt auch keine Illusionen über die naturgesetzlichen Bedingungen unseres Daseins, die ihm der Schöpfer verliehen hat. Er wird vom Schöpfer keinen Unfug erbitten, sondern ihm vorschlagen, wie er uns in den Grenzen unseres Daseins durch dieses Leben leiten möchte.

Natürlich leiden die Vorschläge, die wir Gott bittend machen, allesamt an unserer begrenzten Einsicht und an unseren Irrtümern. Unsere Fürbitten wie alles unser Beten sind darum darauf angewiesen, dass Gott sie in seiner Weisheit korrigiert und zurecht rückt und sie so in seine Umsicht bei seiner Weltregierung aufnimmt. Wenn man sich vorstellt, alles wäre so in Erfüllung gegangen, wie Menschen es seit biblischen Zeiten und heute von Gott erbeten haben, kann man ja regelrecht einen Schreck bekommen. Gott sei Dank, kann man da nur sagen, dass Gott unser Bitten so erfüllt, wie es seiner ewigen Weitsicht und nicht unserer irdischen Kurzsichtigkeit entspricht.

Indem wir in dieser Gewissheit ohne alle Selbstüberschätzung Gott anrufen, hat unser Beten jedoch eine wichtige Konsequenz für unsere Lebensführung. Wer Gott Vorschläge zum Wohle seiner Mitmenschen und der Völker dieser Erde macht, kann die Hände nicht einfach in den Schoß legen. Er bekennt sich mit diesen Vorschlägen ja selbst zu seiner Verantwortung für das Ergehen und Geschick der ihm nahen und fernen Menschen. Er wird also seinen Teil dazu tun, das Elend abzuwenden, um dessen Beseitigung er Gott bittet. Ora et labora, bete und arbeite, hat ein alter Spruch diese Einsicht auf einen lateinischen Reim gebracht. Ora et labora: Bete und tritt selbst für das ein, wofür Du betest, können wir diesen Reim sicherlich für uns selbst aktualisieren.

Leider kommt der Zusammenhang unseres Betens mit unserer tätigen Verantwortung für die Welt in unserem Predigttext aber nicht so gut heraus. Das hängt ein bisschen mit den altertümlichen Vorstellungen von menschlicher Weltverantwortung zusammen, denen die biblischen Texte auch sonst verhaftet sind. Es ist zwar ganz wichtig, wenn unser Text deutlich macht, dass zu christlichen Verantwortung für die Welt an vorderer Stelle das Gebet für die Regierungen gehört.

Für den 1. Timotheusbrief sind das Könige und Obrigkeiten, die dafür sorgen, dass Menschen ein „ruhiges und stilles Leben“ führen und auch ihrer Religion ungehindert nachgehen können. Für sie – die Könige und „Obrigkeiten“ – wird gebetet, dass sie „ihr Amt getreulich führen“, wie wir nachher gleich mit dem Liede „Herr höre, Herr erhöre“ singen werden.

Das ist nach meinem Verständnis ein sehr schönes Lied, weil es die ganze Weite der Anliegen vor Augen stellt, welche im Gebet für alle Menschen wesentlich werden. Aber es ist eben ein Lied aus dem 18. Jahrhundert, das man eigentlich zeitgemäß umdichten müsste. Denn es transportiert auch noch die Vorstellung: Die Obrigkeit sind Herren da oben und die Untertanen sind Knechte. Die einen regieren und die anderen gehorchen und sind stille.

Doch wenn ich darum bete, dass eine Regierung ihr Amt zum Wohle der Menschen wahrnimmt, dann werde ich nicht stille in der Ecke hocken, sondern in Wort und Tat meinen Teil zum Regieren beitragen. Natürlich ist das eindrücklichste Beispiel aus der jüngeren Zeit dafür das Engagement so vieler Christinnen und Christen im Jahre 1989 für eine demokratische Erneuerung der DDR-Gesellschaft. Die heile Welt ist – wie wir alle wissen – dabei nicht heraus gekommen. Aber es ist auch nicht gut, wenn aufgrund der Unvollkommenheiten der Demokratie heute wieder viele Menschen resigniert die Hände den Schoß legen, weil „die da oben“ sowieso machen, was sie wollen.

Solchem Stillesein gräbt das Beten das Wasser ab. Es schweigt nicht vor Gott, wenn Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch sich breit machen. Es lässt Menschen, die beten, mit ihren Möglichkeiten, an ihrem Ort, für eine gerechte Gesellschaft und einen menschenwürdigen Machtgebrauch aktiv werden. Das Beten verleiht ihnen dabei einen langen Atem, der nötig ist, wenn wir darauf blicken, wie viel zu tun ist und wie wenig wir bewirken. Es bringt, wenn wir am Ende noch einmal auf unseren Text hören, aber auch noch einen anderen Blick auf unsere Welt ins Spiel. Und das ist die Dankbarkeit.

Über all den Problemen, Fehlentwicklungen und Missständen, die Menschen in unserer Welt plagen, gerät sehr leicht aus dem Blick, wie viel uns und Menschen auf der ganzen Welt täglich an Bewahrung und Bereicherung unseres Lebens geschenkt wird. Wir wissen nicht, welche Gebete der weltweiten und nahen Christenheit darin zur Erfüllung kommen. Aber dass sie zur Erfüllung kommen, ist doch die eigenartige Gewissheit, die betende Menschen haben.

Sie verlieren das Gute nicht aus dem Blick, das ihnen und auch ihren Mitmenschen in der Nähe und in der Ferne geschenkt wird. Dürfen wir sagen: Es ist, auch wenn es nur ein kleines Gutes ist und angefochten von vielem Kummer, letztlich mehr als das viele Elend, das vor Gott zu beklagen ist?

Wir können und wollen das nicht aufrechnen. Dazu gibt es viel zu nicht aufzurechnendes Leid in unserer Welt. Aber ein Beten, dass nicht von der Dankbarkeit dafür getragen ist, was wir Menschen immer schon von Gott empfangen haben, wäre auch eine ganz abstrakte, einseitige Sache. Es hätte nicht den Gott vor Augen, der uns immer schon aus grundloser Liebe reich beschenkt hat. Für uns Christenmenschen gilt darum: Nicht bloß die Not lehrt Beten. Noch mehr tut es die Dankbarkeit dafür, das Gottes Wohltaten für unser begrenztes Leben unerschöpflich sind. Amen.


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