Category: Predigten
So nimm denn meine Hände
Predigt in einem Abendgottesdienst der Luther- und Nordendgemeinde Berlin am 27.06.2010
Liebe Gemeinde,
in den Abendgottesdiensten, die wir in den vergangenen Jahren gefeiert haben, standen Abendlieder auch im Zentrum der Predigt. Denn da wir uns in diesen Gottesdiensten an den „schönsten Abendliedern unserer Kirche“ erfreuen wollen, ist es recht, dass diese Freunde auch auf das gesprochene Wort übergreift. So wollen wir es auch heute halten, obwohl das Lied, um das es jetzt gehen soll, eigentlich keine richtiges Abendlied ist, sondern nur den sound eines Abendliedes hat.
Es ist auch nicht ganz sicher, ob es Sie Alle wirklich erfreut, wenn wir im Verlaufe der Predigt dieses Lied singen werden. Denn es ist zwar eines beliebtesten Kirchenlieder überhaupt. Bei Umfragen, welche die Hymnologen, die Liederkundler, veranstalten, landet es regelmäßig auf ganz vorderen Plätzen. In unserer Kirche aber ist es stark umstritten. Für die einen ist es ein intimer Begleiter ihres Lebensweges, den sie nicht missen möchten. Dietrich Bonhoeffer, in dessen Frömmigkeit sich viele Motive dieses Liedes finden, gehörte z.B. dazu. Die anderen finden es sentimental, ja kitschig und eigentlich eines Kirchenliedes nicht würdig und nicht in unsere Zeit passend. Außerdem bietet es den Theologen viel Stoff zum Herumkritisieren.
Unser Lied ist deshalb im Evangelischen Kirchengesangbuch von 1950 nicht unter dies zu singenden Lieder aufgenommen worden. Es steht ohne Noten im Gebetsanhang. Aber in unserem Evangelischen Gesangbuch von 1993 ist es wieder voll drin. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, dass ich es seitdem jemals in einem Gottesdienst gesungen habe. Dafür aber wird es umso häufiger bei – Beerdigungen gewünscht, wozu allerdings auch die Beratung durch die Bestattungsinstitute ihren Teil beiträgt.
Sie ahnen nach dieser Beschreibung des wechselhaften Geschicks unseres nicht wenig umstrittenen Liedes also sicherlich schon, worum es sich handelt. Es geht um „So nimm denn meine Hände und führe mich“. Julie von Hausmann, eine allein stehende, zeitlebens kränkelnde Erzieherin und Haushälterin hat es 1862 zusammen mit anderen Gedichten in einem Bande anonym veröffentlichen lassen, der den Titel trägt: „Maiblumen. Lieder einer Stillen im Lande“. Schon dieser Titel weist darauf hin, dass wir uns hier in der Welt einer verinnerlichten, gefühlsbetonten Frömmigkeit befinden, wie sie vor 150 Jahren in kirchlichen und besonders in pietistischen Kreisen geschätzt wurde. Der Herausgeber der „Maiblumen“ war Pfarrer der Herrenhuter Brüdergemeinde in Berlin-Neukölln.
Unterdessen sind die „Maiblumen“ längst verblüht. Kaum einer kennt heutzutage noch Julie von Hausmanns poetische Werke – mit einer Ausnahme. „So nimm denn meine Hände“ fand eine rasante Verbreitung bis heute und das durch viele Übersetzungen in andere Sprachen nicht nur in Deutschland. Diesen erstaunlichen Siegeszug aber verdankt das Lied ohne Zweifel nicht zuletzt der Melodie, durch die es populär wurde. Sie stammt von einem Volkslieder-Komponisten, Friedrich Silcher, von dessen Melodien Sie Alle sicherlich viele kennen. Elisabeth Orphal lässt ein paar der Bekanntesten dieser Melodien anklingen, damit wir uns ein wenig mit der musikalischen Atmosphäre vertraut machen, mit der wir es hier zu tun bekommen.
(z.B. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, In einem kühlen Grunde, Wenn alle Brünnlein fließen, Ich hat einen Kameraden, Kein Feuer, keine Kohle, Der Mai ist gekommen, Das Lieben bringt groß Freud, Ännchen von Tharau)
Volkslieder zeichnen sich dadurch aus, dass sie in Text und Melodie schlicht und leicht fasslich sind. Liebesfreund und Liebesleid spielen in ihnen eine große Rolle. Sie sprechen Herz und Gemüt an, so wie es auch bei „So nimm den meine Hände“ der Fall ist. Allerdings war die Melodie ursprünglich gar nicht für dieses Lied gedacht, sondern für – ein Abendlied. Es heißt: „Wie könnt’ ich ruhig schlafen in dunkler Nacht“. Dieses Abendlied ist unterdessen gänzlich vergessen. Aber es passt in seinen Aussagen eigentlich ohne Weiteres mit den Abendliedern unserer Kirche zusammen. Deshalb sollten wir es ruhig einmal singen. Es steht auf dem ausgeteilten Liedblatt.
Lied:
1. Wie könnt ich ruhig schlafen in dunkler Nacht,
wenn ich, o Gott und Vater, nicht Dein gedacht?
Es hat des Tages Treiben mein Herz zerstreut;
bei Dir, bei Dir ist Frieden und Seligkeit.
2. O decke meine Mängel mit Deiner Huld,
Du bist ja, Gott, die Liebe und die Geduld.
Gib mir, um was ich flehe: ein reines Herz,
das Dir voll Freuden diene in Glück und Schmerz.
3. Auch hilf, daß ich vergebe, wie Du vergibst,
und meine Brüder liebe, wie Du mich liebst.
So schlaf ich ohne Bangen in Frieden ein
und träume süß und stille und denke Dein.
Vielleicht, liebe Gemeinde, wäre dieses Lied ja in den lebendigen Liederschatz unserer Kirche eingewandert, wenn sich Julie von Hausmanns Lied nicht so unlöslich mit seiner Melodie verbunden, ja verklebt hätte. Das ging übrigens nur, indem die ursprünglich 6 Strophen zu drei Strophen zusammen gefasst wurden. Dadurch hat es – besonders durch den anschwellenden zweiten Teil – denn auch diesen Volksliedcharakter gewonnen, der sonst eigentlich nur für viele Abendlieder unserer Kirche charakteristisch ist. Die Frage, ob damit die Ernsthaftigkeit eines christlichen Leben, die aus dem Text als solchem spricht, nicht ins Sentimentale und Gefühlsduselige gezogen und verharmlost wird, hat sich deshalb von Anfang an gestellt. Ein Kirchenmusiker, Eduard Hille, hat sich aus diesem Grunde 1866 auch hingesetzt und versucht, einen Choral aus dem Lied zu machen. Der sollte so klingen:
Doch eine derartige Choralversion hatte keine Chance mehr, sich gegen das Volksliedhafte zu behaupten. Dieses Volksliedhafte aber hat dazu verführt, die biblischen Motive für ein christliches Leben, die in diesem Liede reichlich vorhanden sind, zu überspielen. Besonders krass wird das in den folgenden Jahren daran sichtbar, dass „So nimm denn meine Hände“ zu einem äußert beliebten Lied bei Trauungen wurde. Hier gab vor allem die erste Strophe den Ton an. Braut und Bräutigam bitten sich gegenseitig, sich ihre Hände zu geben, sich zu führen und keinen Schritt mehr alleine zu tun. Manchmal wurde das, weil die Vfn. des Liedes ja eine Frau war, auch nur auf die Braut bezogen. Sie bittet ihren Eheherrn, sie zu führen.
Ein derart merkwürdige Verortung unseres Liedes wurde sicherlich auch durch eine wundersame Geschichte von seiner Entstehung befördert. Das ist nämlich eine – wenn auch ziemlich traurige – Ehegeschichte. Julie von Hausmann soll sich demnach in jungen Jahren in einen Pfarrer verliebt und sich spontan mit ihm verlobt haben. Dieser Mensch aber habe sich zum Zeitpunkt der Verlobung kurz vor der Abreise nach Indien befunden, wo er als Missionar wirken wollte. Unsere Julie konnte jedoch nicht mitfahren, weil sie die nötigen Visa nicht besaß und erst ihr Gepäck zusammen suchen musste.
So sei der Missionar denn alleine los gereist, während ihm seine Verlobte ein paar Monate später auf eine für eine allein reisende Frau in damaligen Zeiten ziemlich abenteuerliche Weise folgte. Als sie aber endlich in Indien ankam, war ihr Verlobter tot. Eine Seuche hatte ihn dahin gerafft. Daraufhin soll sie dann dieses Lied geschrieben haben, in dem sie ihr Leben jetzt der Führung Gottes anvertraute und so für die Rückreise gut gerüstet war.
Diese Geschichte wird in erwecklichen Predigten bis heute tatsächlich verbreitet. Doch sie ist schlicht Unfug. Man kann das schon daran sehen, dass Julie von Hausmann in manchen Versionen dem Missionar nach Afrika folgt, in anderen nach Südostasien. Bei den einen wird ihr der Tod ihres Verlobten gleich bei der Ankunft mitgeteilt, bei den anderen stolpert sie erst tagelang durch wildes Land, um dann erschüttert das Grab Ihres Verlobten zu finden, der erst drei Tage vorher gestorben war. In der biographischen Hinterlassenschaft unserer Dichterin findet sich von alledem kein Wort. Sie ist nie aus Europa heraus gekommen und war auch nicht verlobt. Trotzdem hat diese fromme Erfindung sicherlich dazu beigetragen, den Sinn unseres Liedes auf das Verhältnis von Eheleuten zueinander zu beziehen.
Von seinem Inhalt her verbietet sich das eigentlich von selbst. Aber seine Einwanderung in’s phantasiereiche Volkslied macht’s möglich. Vergleichbares gilt für den schon vor 150 Jahren einsetzenden beliebten Gebrauch dieses Liedes bei Beerdigungen. Die am Grabe ihres Geliebten stehende junge Frau lädt alle ein, die an Gräbern stehen, ihr Leben jetzt auch der Führung Gottes anzuvertrauen. Die Zuspitzung unseres Liedes auf ein Grablied hat zwar einen gewissen Anhalt an seinem Text. „...und führe mich bis an mein selig Ende“, heißt es da ja. Trotzdem ist dieses Lied kein Grablied, sondern ein Wegelied für das Leben.
Das Verstehen dessen, was das für ein Leben ist, ist in unserem Gottesdienst schon ein wenig vorbereitet worden. Psalm 139 und die beiden Lesungen, die wir gehört haben, sind biblische Texte, die bei Julie von Hausmann anklingen. Vielleicht achten Sie ein wenig darauf, wenn wir dieses Lied jetzt singen, das wegen der abendlichen Grundgestimmtheit seiner Melodie vielleicht tatsächlich am Besten in besinnlichen Abendstunden gesungen wird. Ich selber habe es in meinem Elternhause sehr häufig bei Abendandachten gesungen.
EG 376: So nimm denn meine Hände
Der Pfarrer Knak aus Neukölln hat dem Lied, das wir eben gesungen haben, in den „Maiblumen“ – ein Titel, mit dem Julie von Hausmann übrigens nicht einverstanden war – eine Überschrift hinzugefügt. Sie lautet: „Ich will dir folgen, wo Du hingehst“. Sie haben das aus der Lesung von Lukas 9 sicherlich noch im Ohr. Ein begeisterter Anhänger Jesu ruft das aus. Aber er muss sich sagen lassen, dass er sich dann auf ein Leben gefasst machen muss, das unsicherer ist als das der Füchse in ihren Gruben und der Vögel in ihren Nestern. So sieht die „Nachfolge“ aus, die keine Garantie für ein sicheres Leben in dieser Welt bietet. In den Fußspuren Jesu wird der Lebensweg in dieser Welt zum Kreuzesweg, auf dem alle Freude an Jesu Gottesklarheit und Menschlichkeit von dem Schmerz begleitet wird, den Gottesfinsternis und Menschenfeindschaft ihm und denen, die im nachfolgen, bereiten.
Julie von Hausmann hat diese Erfahrung in eigenartiger Weise und in poetischer Freiheit mit der Gewissheit zusammen gemischt, die aus dem 139. Psalm spricht, den wir am Anfang gebetet haben. Dass „Gottes Hand“ einen Menschen leitet und führt, verschmilzt bei ihr mit Jesu Ruf in die Nachfolge. Wenn Gott ihre Hände nimmt und sie führt, dann ist dieser Ruf keine fast übermenschliche Zumutung. Dann wird ein Mensch von Gott in die Nachfolge Jesu geleitet. Es ist dann nicht Hektik angesagt, sondern ruhige Gelassenheit auf einem Wege, dessen gutes, dessen „seliges“ Ende gewiss ist.
Maria, die, wie wir in der andern Lesung gehört haben, im Unterschied zu ihrer hektischen Schwester nach Hausfrauenart, Martha, hörend zu „Jesu Füßen“ sitzt, ist für Julie von Hausmann das Urbild eines gelassenen Christenmenschen in den Stürmen der Zeit. Sie wünscht sich, zu Jesu Füßen zu ruhen und so durch ihre persönliche Kreuzesnacht eines schlimmen Migräneleidens geführt zu werden, in der von Gottes Macht nichts zu spüren ist. Sie empfindet sich dabei als ein „armes Kind“. Doch als „Kinder“ und schon gar als „arme Kinder“ hat Jesus niemand bezeichnet, den er in die Nachfolge rief. Als „Kinder“, als Kinder eines Vaters, verstehen sich vielmehr die, die Gott als „Vater“ anrufen.
Auch hier verbindet sich in unserem Liede Jesu Ruf in seine Nachfolge mit dem Vertrauen zu dem Gott, der selbst in den extremsten Situationen des Lebens führt und leitet. Auch hier ist eine große Beruhigung des Lebens die Pointe dieser Verbindung. Eingehüllt in Gottes Erbarmen wie in einen warmen Wintermantel will das „arme Herz“ des „armen Kindes“ mucksmäuschen stille sein. Man hat den Eindruck, unsere Julie-Maria bleibt zu Jesu Füßen sitzen, auch wenn sie vom Gehen auf ein Ziel hin spricht. Es ist mehr eine innere Reise als ein „Stehen und Gehen“ in Jesu Mission. Das aber will nicht so recht zu seinem Rufe in seine Nachfolge passen.
Hier setzt darum auch das Kopfwiegen unserer Kirche und ihrer Theologinnen und Theologen ein. Der Ruf Jesu in die Nachfolge ist doch keine Aufforderung zum Sitzenbleiben im warmen Stübchen! Da geht’s doch hinaus in die Welt, wo der Wind pfeift. Da muss das Reich Gottes verkündigt und sein Frieden in einer friedlosen Welt mit Worten und Taten dargestellt werden. Da heißt es nicht: „Augen zu“, sondern „Augen auf“. Da geht’s nicht um Freud und Schmerz einer einsamen, stillen Seele, sondern um Heil und Unheil der Welt!
Das ist, liebe Gemeinde, natürlich alles richtig. Aber die, die solche Richtigkeiten ins Feld führen, müssen aufpassen, dass sie dabei nicht selber blind für das Echte in Julie von Hausmanns Lied werden. „Gebärde dich nicht allzu weise, warum willst du dich zugrunde richten“? heißt es schon in den Sprüchen Salomons.
Allzu weise aber wäre es, die Verinnerlichung der Gewissheit, in der Nachfolge Jesu von Gottes Hand geführt zu werden, bloß auf das Konto irgendeiner religiösen Sentimentalität zu schreiben. Ein Mensch in der Nachfolge Jesu ist doch kein abstrakter Funktionär eines noch so guten Anliegens! Dessen eigenes Leben, Empfinden und Fühlen ist doch dabei, wenn er seine Schritte in Jesu Fußspuren setzt. Jesu Ruf in seine Nachfolge verbietet es aber ganz bestimmt nicht, dass dieses Leben sich auch äußert und davon redet oder singt, was Menschen im Innersten bewegt, die mit ihm auf dem Wege sind.
Der große Erfolg unseres Liedes verdankt sich sicherlich auch dem Eindruck vieler Menschen, dass hier etwas zum Ausdruck kommt, was sie im Blick auf ihr eigenes Leben selbst empfinden. Das ist die Sehnsucht, dieses ihr Leben möge nicht in lauter unzusammen hängende Einzelteile, Zufälle, Geschicke, Taten und Untaten sinnlos auseinander stieben. Es ist das Suchen nach einem Weg, auf dem sich unser Leben zu einem zusammen stimmenden Ganzen, zu einem Lebensweg, ordnet.
Im Liede „So nimm denn meine Hände“ werden wir in Text und Melodie von einem solchen Leben mit einem Lebensweg berührt. Es ist nicht unser Lebensweg. Es ist der Weg einer „Stillen im Lande“ vor 150 Jahren. Indem wir ihr Lied singen, merken wir das ja auch. Wir singen dann sozusagen mit Abstand, wie wir das ja übrigens auch mit Liedern tun, in denen uns eine von anderen Zeiten geprägte Frömmigkeit begegnet. Aber zugleich kann sich beim Singen unseres Liedes doch auch ein Gefühl des Einverständnisses melden. Es ist das Gefühl, wie gut es wäre, wenn sich in der Nachfolge Jesu und unter Gottes Führung auch unser Leben zu einem Lebensweg ordnete, mit dem wir in „Freud und Schmerz“ ganz einverstanden können. Amen.